Persönlich – Wie ist es eigentlich, im hohen Alter noch eine Zahnspange zu bekommen?

Grässlich. Es ist einfach grässlich.

Zugegeben, es musste offenbar sein: Entweder Zahnspange oder in absehbarer Zeit die Dritten wegen ­zunehmender Zahndestruktion. Das wollen wir ja nun auch nicht wirklich.

Also, schicken wir uns mal drein und suchen den ­empfohlenen Kieferorthopäden auf. Dieser gibt mir drei ­Varianten zur Auswahl:

Die abnehmbare Plastikschiene, die zum Essen heraus­genommen wird, danach wieder eingesetzt. Kosmetisch vertretbar, finde ich. Angesichts der genauen Kenntnis meiner Compliance bei selber herausnehmbaren Gadgets eher nicht empfehlenswert. Nächste Variante: Die klassische drahtige Teenagerspange, einzementiert, gut sichtbar für alle. Attraktiverweise mit verschiedensten Farbtönen der Brackets verfügbar, überzeugt mich diese Variante angesichts der Aussicht, für die nächsten zwölf Monate wie ein in die Jahre gekommener Teenager auszusehen, dann doch nicht.

Variante drei erhält dann den Zuschlag: So wie Variante 2, aber an der Innenseite der Zähne, im Fachjargon lingual genannt, befestigte Brackets. Wunderbar – sieht man nicht, easy, lingual hört sich prosaisch an. Frau Doktor versichert mir, dass man die hässlichen Dinger nicht sieht, sich die Sprache nicht signifikant ändert und die Zahnstellung so wunderbar in den nächsten zwölf Monaten korrigiert werden kann. Also gut; Röntgenunter­suchungen werden veranlasst, Abdrücke (…heissen so, weil einem die LUFT abgedrückt wird) genommen, ­Termine vereinbart.

Termine sind meine Schwäche, dies im Positiven wie im negativen Sinne. Ich finde, dass es ideal ist, die fest ­zementierte Spange zwei Tage vor unserem urogynäkologischen Weltkongress einsetzen zu lassen, habe natürlich keine Vorstellung davon, was mich erwartet.

Das Einsetzen dauert knapp drei Stunden, während derer mit Vorteil der Mund weit geöffnet bleibt, austrocknet wie eine Trockenpflaume, gefräst, geklebt und beruhigt wird. Frau Doktor ist extrem nett und einfühlsam. Alles gut. Erstmal.

Abends bin ich zur Dernierenfeier im Stadttheater eingeladen. Meine bis dahin Zahnspangen-jungfräuliche Zunge protestiert bereits nach zwei Stunden gegen Drähte, Brackets und überhaupt. Scheuerstellen entstehen, reden hört sich an wie nach dem dritten CVI, und es sabbert. Meine Theaterkollegen sind leicht irritiert, mitleidige Blicke ­begleiten die lange erwartete Derniere, frühzeitig verabschiede ich mich. Ich fühle mich schwer behindert. ­Trinken geht, essen nur püriert. Am besten flüssig. Super.

Am nächsten Tag geht es zum Weltkongress. Ich erkenne an Tag 1 meines Zahnspangendaseins, das das Ding Vor- und Nachteile hat.

Vorteil: kann nicht von mir manipuliert werden; Nachteil: kann nicht von mir manipuliert werden.

Herausnehmen unmöglich. Zungenschmerzen. Habe nicht gewusst, dass es sowas gibt, bin ja schliesslich Gynäko­login.

Beim Kongress – logisch – muss ich auf’s Podium und reden; wie mein Gatte immer wieder bemerkt, ist quatschen schliesslich mein Beruf. Irgendwie fällt mein neu erworbener Sprachfehler auf Englisch nicht so auf. Dafür fragt mich Linda Cardozo, eine Kollegin aus London, die mich schon viele Jahre kennt, ob ich sicher bin, kein ­Malignom zu haben. Schliesse messerscharf daraus, dass ich nicht blendend aussehe. Das ist Mist, im Moment aber eher sekundär. Es geht aktuell ums pure Überleben.

Normalerweise mag ich Frühstück im Hotel, Buffet, herrlich. Jetzt mit Zahnspange??? Vergiss es. Es gibt Rührei, Joghurt oder Rührei. Alles Solide quält meine Mundhöhle derart, dass ich lieber verzichte. Abends gemeinsames Essen mit der Schweizer Fraktion. Mein Sitznachbar, ein Freund des schwelgenden Genusses, isst eine riesige Schweinshaxe, ich eine Suppe. Fein. Die Kollegen fragen meine Freundin, ob ich irgendwie schwer erkrankt sei. Ich zweifele an meiner Entscheidung für die Spange und frage mich, ob die Dritten nicht besser gewesen wären.

Irgendwie überlebe ich den Kongress mit Suppe und Rührei. Alkohol hilf nur bedingt. Leider.

Im Verlauf werden in den nächsten Monaten immer wieder Drähte gewechselt, verstärkt, gebogen und montiert, woraufhin meine Zunge immer wieder gleich beleidigt reagiert.

Getoppt wird das Ganze, als nach acht Monaten auch noch fiese kleine sehr potente Gummis dazukommen, die ich mehrmals täglich montieren muss, um meinen Kiefer in eine neue Position zu zwingen. Diese Gummis haben typisch gynäkologische Probleme: Sie reissen und „zongen“ dann an den Gaumen, die Zunge oder das Zahnfleisch. Tut fast nicht weh.

Fazit

Nach knapp neun Monaten Zahnspange, etlichen Kilos weniger und ganz neuen Erfahrungen mit Gummis sind die Zähne wieder gerade. Sprechen ist immer noch nicht wie normal, ich denke jeden Tag daran, wann dieses Teil endlich wieder rauskommt. Essen macht keinen Spass mehr. Zahnspangen sollte man am besten in jungen ­Jahren und nicht erst mit 54 montieren lassen. Dann
kann man sich wenigstens an roten, blauen und grünen ­Brackets erfreuen.

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