Gynäkologische Tumorerkrankungen im Alter – Mythen und Fakten

Unsere Gesellschaft altert und mit ihr unsere Patientinnen. Immer häufiger sehen wir in unserer täglichen ­Praxis betagte und hochbetagte Patientinnen mit der Diagnose einer gynäkologischen Tumorerkrankung. Das Spannungsfeld zwischen „sollen wir da denn überhaupt noch etwas unter-nehmen?“ und „eigentlich ist sie noch ganz gut zuwege“ ist riesig.

Diese bewusst etwas provokant gewählten Sätze, die die Betroffene in die dritte Person stellt, illustrieren einen weiteren Faktor, nämlich die oft sehr starke Involvierung nächster Angehöriger in die Betreuung und insbesondere in die Therapieentscheidung. Es ist in diesem Kontext sehr wichtig, unterscheiden zu können, ob bei Äusserungen der Wille der Patientin oder der der wohlmeinenden Begleitung im Vordergrund steht. Ängste der Angehörigen vor einer zu aggressiven Therapie, Ängste der Patientin vor einem Verlust der Autonomie mit vermehrter Hilfebedürftigkeit spielen oft eine Rolle. Nicht selten sind gerade ältere Damen mit guter Gesundheit stark in die Versorgung ihrer meist älteren und hilfebedürftigeren Ehemänner involviert und haben Sorge, diese Funktion nicht mehr ausüben zu können. Die ­Situation des sozialen Umfelds tritt hier stärker als bei vielen anderen onkologischen Patientinnen in den ­Vordergrund.

Über den „Alterskrebs“ als quasi eigene Entität als auch über die Therapiemöglichkeiten bei älteren Patientinnen existieren oft realitätsferne Vorstellungen, die es richtigzustellen gilt. Ein verbreiteter Mythos ist, dass der Spontanverlauf von Krebserkrankungen im Alter günstiger ist als bei jungen Patientinnen: „Im Alter wächst der Krebs nicht so schnell.“ Die Realität steht dieser Ansicht diametral gegenüber: gerade bei gynäkologischen Tumoren wie dem Corpuskarzinom und dem Ovarialkarzinom sind aggressive Tumorbiologien mit steigendem Patientinnenalter häufiger zu beobachten als bei jüngeren Frauen [1, 2]. Beim Ovarialkarzinom werden im Alter erheblich weniger Tumore in den Stadien I und II diagnostiziert [3].

Ebenfalls häufig fehleingeschätzt wird die Lebens­erwartung der Patientin. Die Lebenserwartung in der Schweiz ist in den letzten Jahrzehnten langsam kontinuierlich angestiegen. Bei einer durchschnittlichen ­Lebenserwartung von 86 Jahren beträgt die Lebens­erwartung einer 80-jährigen Frau aber nicht, wie oft angenommen, sechs Jahre, sondern ca. neun Jahre. Anders gesagt: Wer bei guter Gesundheit ein hohes Alter erreicht hat, hat gute Chancen, ein erheblich höheres Alter als der Durchschnitt zu erreichen. Der Einfluss einer onkologischen Erkrankung auf die Lebenserwartung und auch die Lebensqualität kann daher auch im hohen Alter für eine Patientin sehr relevant sein. Wir reden seit vielen Jahren vom biologischen Alter und dass dieses weitaus entscheidender ist als das chronologische. Das biologische Alter ist jedoch schlecht zu beziffern. Im Tumorboard sind die Patientinnen in der Regel einer Minderheit der Teilnehmenden persönlich bekannt, oft werden nur Extreme („stark vorgealtert“, „biologisch deutlich jünger“) hervorgehoben und in der Therapieentscheidung berücksichtigt. Zum Wert geriatrischer Assessments liegen unterschiedliche Daten vor. Die persönliche Einschätzung durch einen onkologisch erfahrenen Arzt ist in der individuellen Einschätzung von Risiko und Nutzen unverzichtbar.

Viele Patientinnen über 70 erhalten keine adäquate Therapie

Die oben beschriebenen Phänomene führen dazu, dass nachweislich eine hohe Anzahl von älteren Patientinnen keine adäquate Tumortherapie erhält. Bei Patientinnen mit Ovarialkarzinom gibt es eine Metaanalyse, bei der in einzelnen Kohorten fast die Hälfte aller Patientinnen über 80 Jahre keine Chemotherapie erhielt, bei Patientinnen über 65 Jahre waren es ein Viertel der Patientinnen [4]. Dass dies sich unmittelbar auf die Mortalität auswirkte, erstaunt nicht. In einer anderen Kohorte wurde beschrieben, dass über die Hälfte aller Patientinnen >70 Jahre, die an einem Ovarialkarzinom erkrankt waren, keine operative Therapie erhielten, ebenfalls mit unmittelbarer Auswirkung auf die Mortalität der Patientinnen. Eine französische Studie zeigte, dass Patientinnen mit einem Alter von >70 Jahren nur in der Hälfte der Fälle eine leitliniengerechte operative und systemische Therapie erhielten [5]. Dass das Dilemma des hohen Alters mit unterschiedlicher Herangehensweise betrachtet werden kann, zeigt eine internationale Datenanalyse: in der Kohorte der ältesten Patientinnen zeigte sich die grösste landesspezifische Differenz im 3-Jahres-Überleben (12% versus 24%) [3]. Oftmals wird bei älteren Patientinnen eine neoadjuvante Chemotherapie durchgeführt, was im klinischen Gesamtkontext durchaus gut begründet sein kann. Ein signifikanter Anteil dieser Patientinnen wird jedoch im Verlauf keiner operativen Therapie zugeführt [6]. Eine kürzlich publizierte Studie zeigte klar, dass der Verzicht auf ein Intervall-Debulking für die Patientinnen von Nachteil ist [7]. Bei frühen Tumorstadien FIGO I und II scheint ein kompromisshaftes Vorgehen bei der operativen Therapie dagegen eher möglich zu sein, der Verzicht auf ein vollständiges operatives Staging scheint in keiner signifikanten Verschlechterung der Prognose zu resultieren [8].

Für das Endometriumkarzinom sind ähnliche Effekte wie für das Ovarialkarzinom beschrieben, sowohl die operative als auch die adjuvante Therapie betreffend. Dies erstaunt insofern, als dass es sich beim Endometriumkarzinom in der Regel um eine lokal begrenzte, wenig aufwendig zu behandelnde Erkrankung handelt. Hysterektomie und Adnexektomie, allenfalls kombiniert mit einer Lymphadenektomie, sind in ihrem Umfang ungleich überschaubarer als ein Tumordebulking bei einem fortgeschrittenen Ovarialkarzinom. Die konsequente operative Therapie wird dennoch häufig nicht durchgeführt, obwohl diese in aller Regel ohne nachteilige Folgen für die onkochirurgische Sicherheit minimalinvasiv durchgeführt werden kann, und Immobilisation, Blutverlust, stationäre Aufenthaltsdauer und allgemeine Komplikationsrisiken für die Patientinnen sehr überschaubar sind. In einer Subanalyse der LAP2-Studie, in der fast 1500 Patientinnen im Alter von ≥60 Jahren hatten, waren die Vorteile der minimalinvasiven Chirurgie klar ersichtlich [9]. Die vollständige Lymphadenektomie ist in vielen Institutionen mittlerweile durch das Sentinel-Verfahren abgelöst worden, welches insbesondere mit der Anwendung von Indocyaningrün extrem hohe Detektionsraten erreicht [10]. Hierdurch lässt sich ein adäquates operatives Staging bei minimaler Belastung der Patientin erreichen, was gerade für ältere und komorbide Patientinnen von enormem Wert ist. Die Indikation zur Durchführung einer adjuvanten Therapie wird bei älteren Patientinnen signifikant seltener gestellt, was sich auf Rezidivrate und Mortalität unmittelbar auswirkt [1, 2]. Eine Untertherapie erwies sich in jedem Lebensalter – auch bei >80-Jährigen – als negativer prognostischer Faktor für die Patientin [1].

Die vorliegenden Daten weisen auf Defizite in der Versorgung älterer Patientinnen mit gynäkologischen Tumorerkrankungen hin. Bedenklich ist, dass allein das Lebensalter als unabhängiger statistischer Faktor für eine Untertherapie identifiziert wurde. Nicht nur in der Primärtherapie, sondern auch bei Supportivmassnahmen und palliativen Therapien war dieser Effekt sichtbar [1]. Die Abweichung von international anerkannten Empfehlungen ist häufig begründbar. Sicher ist auch, dass ein leitliniengerechtes Vorgehen nicht für alle unsere Patientinnen geeignet oder von Patientinnenseite gewünscht ist. Die in der Literatur beschriebenen Effekte sind jedoch in ihrem Umfang überraschend gross und sollten Anlass geben, die eigene klinische Praxis zu hinterfragen. Ein „one-size-fits-all“ gibt es nicht und es ist sicher nicht erstrebenswert, allen das Maximum an Therapie zukommen zu lassen. Sowohl operative als auch konservative Massnahmen wie Chemo- und Radiotherapie können bedarfsweise an die jeweilige Situation angepasst werden. Eine individuelle Therapieplanung ist entscheidend, in der die Chancen und Risiken für die Patientin klar gegeneinander abgewogen werden müssen. Besonders zu berücksichtigen sind hierbei neben dem allgemeinen körperlichen Zustand die persönlichen Prioritäten der Patientin, nicht selten ist eine der unbedingte Erhalt der Selbstständigkeit.

Fazit

Wir werden in Zukunft häufiger hochbetagte Patientinnen mit gynäkologischen Karzinomen behandeln.

Oftmals findet eine Untertherapie älterer Patientinnen statt. Diese hat nachteilige Auswirkungen auf die Prognose.

Insbesondere im Alter ist eine individualisierte Beratung und Therapieplanung erforderlich.

Moderne Operations- und Anästhesieverfahren ermöglichen die Behandlung auch von sehr betagten Patientinnen.

Die Abschätzung von Risiko und Nutzen ist eine Herausforderung in der Beratung unserer Patientinnen. Der Wille der Patientin sollte immer im Vordergrund stehen.

Literatur

1. Koual, M et al. Endometrial cancer in the elderly – does age influence surgical treatments, outcomes, and prognosis? Menopause: September 2018 – Volume 25 – Issue 9 – p 968–976

2. Poupon C et al. Management and Survival of Elderly and Very Elderly Patients with Endometrial Cancer: An Age-Stratified Study of 1228 Women from the FRANCOGYN Group. Ann Surg Oncol. 2017 Jun;24(6):1667–1676.

3. Cabasag CJ et al. Exploring variations in ovarian cancer survival by age and stage (ICBP SurvMark-2): A population-based study. Gynecol Oncol. 2020 Jan 28. pii: S0090–8258(19)31877–3.

4. Bouchardy C. et al. Older Female Cancer Patients: Importance, Causes, and Consequences of Untertreatment. J Clin Oncol. 2007 May 10;25(14):1858–69.

5. Fourcadier, E et al. Under-treatment of elderly patients with ovarian cancer: a population based study. BMC Cancer 15, 937 (2015).

6. Liu YL et al. Characteristics and survival of ovarian cancer patients treated with neoadjuvant chemotherapy but not undergoing interval debulking surgery. J Gynecol Oncol. 2020 Jan; 31(1):e17.

7. Klein DA et al. Chemotherapy alone for patients 75 years and older with epithelial ovarian cancer – is interval cytoreductive surgery still needed? AJOG, February 2020 Volume 222, Issue 2, Pages 170.e1–170.

8. Kajiyama H et al. Is standard radical surgery necessary for elderly patients with early-stage epithelial ovarian carcinoma? Propensity score matched analysis. Jpn J Clin Oncol. 2019 Dec 14.

9. Bishop EA et al. Surgical outcomes among elderly women with endometrial cancer treated by laparoscopic hysterectomy: a NRG/Gynecologic Oncology Group study. AJOG 218, Issue 1, Pages 109.

10. Rossi EC et al. A comparison of sentinel lymph node biopsy to lymphadenectomy for endometrial cancer staging (FIRES trial): a multicentre, prospective, cohort study. Lancet Oncol. 2017 Mar; 18(3):384–392.

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