Betrifft: Verursachen Ctrl C – Ctrl V, Aküfi oder AKW medizinische Fehler?

Wenn in einem medizinischen Bericht steht, dass die Patientin wegen HWI nach TVT hospitalisiert wurde, wird dies, je nach Fachgebiet, unterschiedlich verstanden.

Hatte die Patientin einen Harnwegsinfekt nach Tension free Vaginal Tape? Oder einen Hinterwandinfarkt nach Tiefer Venenthrombose? Oder eine Hackenwurminfektion nach Tactil-Visual Transfer? Oder …? Es gibt 15 verschiedene medizinische Begriffe, die mit HWI, und zehn; ­welche mit TVT abgekürzt werden. Die Lesenden können dementsprechend frei kombinieren und den Bericht ­entsprechend ihren Kenntnissen interpretieren.

Ob Ctrl-C – Ctrl-V (= „Kopieren-Einfügen“ Tastenkombinationsbefehl), das „Aküfi“ (Abkürzungsfimmel)-Zeitalter oder die „AKW“ (Abkürzungswut) dafür verantwortlich sind, ist schwierig zu sagen, aber die „inflationäre“ Entwicklung von Abkürzungen und Akronymen (aus den Anfangsbuchstaben mehrerer Wörter gebildete „Kunstbegriffe“) erschweren das Lesen von medizinischen Berichten immer mehr.

Abkürzungen sollten Zeit sparen und helfen, wichtige Informationen präzise weiterzugeben, sie bewirken aber häufig das Gegenteil. Besonders problematisch sind Abkürzungen mit nur zwei Buchstaben (z. B. „MS“= „multiple Sklerose“; manisches Syndrom; Ménétrier-Syndrom; metabolisches Syndrom sowie 62 weitere verschiedene Syndrome!). Eine kürzlich veröffentlichte australische Studie [Holper S. et al.; Intern Med J 2019] hat nachgewiesen, dass fast ein Drittel (31,9 %) der in Austrittsberichten verwendeten Abkürzungen mehrdeutig sind! Die Problematik dieser Entwicklung wird dadurch deutlich, dass die gleiche Abkürzung oft für unterschiedliche und teilweise gegensätzliche Bezeichnungen gebraucht wird, was zu Missverständnissen und Verwechslungen Anlass geben kann. Jede Abkürzung kann auch in unterschiedlicher Schreibweise verwendet werden: mit Gross- oder Kleinbuchstaben, mit oder ohne Bindestrich, mit oder ohne Punkt(en) und auch im Singular oder Plural. Wenn eine Abkürzung nicht begriffen wird, wird oft stillschweigend das Naheliegendste vermutet, beziehungsweise in dieser Weise interpretiert – und das ist nicht immer richtig. Falsche Interpretationen können, vor allem bei Verordnungen, zu Komplikationen führen. In den USA ist es zum Beispiel verboten, in Arztbriefen Diagnosen abzukürzen.

Wegen der besseren Einprägsamkeit werden neuerdings auch Abkürzungen verwendet, welche nicht nur mit den Anfangsbuchstaben erfolgen, sondern wo auch der zweite, dritte oder andere Buchstaben Verwendung finden. Und um die Leserlichkeit von medizinischen Berichten noch weiter zu erschweren, wurden in den letzten Jahren zahlreiche Mnemonics (= Gedächtnishilfen oder „Eselsbrücken“) aufgenommen, die in Abkürzungsform vorliegen. Es gibt keine medizinische Studie mehr, welche nicht unter einem extravaganten, gut klingenden Namen mit hohem Marketing Potential durchgeführt wird. Manchmal hat man das Gefühl, dass mehr Zeit für die Namens­gebung dieser Studien als für das statistische Design aufgewendet wurde.

Man mag diese Entwicklung für gut oder schlecht halten, aufhalten lässt sie sich im Zeitalter von SMS, Chats, ­Instant Messaging und sozialen Plattformen sicherlich nicht mehr. Es ist jedoch in unserer Verantwortung, zu versuchen, nur Abkürzungen zu brauchen, welche klar und eindeutig sind und Abkürzungen auszuschreiben, die nicht zwei- oder vieldeutig sind.

Für die Herausgeber

Prof. Michael D. Mueller

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