Personalisierte Fortpflanzungsmedizin
Personalisierte („precision“-Medizin) (PM) könnte man im Grunde genommen auch eine „massgeschneiderte“ Therapie nennen. Der Begriff stammt aus der Onkologie und eine personalisierte Therapie (u. a. Medikamente) stützt sich dort auf genetische Analysen des Tumors, wodurch präzisere und besser wirksame Medikamente eingesetzt werden können.
Individualisierte Follikelstimulation bei IVF/ICSI
Für eine individuelle Behandlungsempfehlung sollten die Wünsche des Paares, die Sterilitätsursache und allenfalls vorhandene Ängste berücksichtigt werden. So kann mit dem Paar zusammen entschieden werden, ob eine künstliche Befruchtung im natürlichen Zyklus (IVF-Naturelleã) oder ein mit Medikamenten stimulierter Zyklus sinnvoll ist. Die Wahl der Medikamente und insbesondere der Dosierung stützt sich heute auf messbare Parameter der Patientin ab wie das Alter, antral follicle count (AFC), Anti-Müller-Hormon, Body-Mass-Index (BMI) etc.
Wahl der Therapie bei Eileiterpathologie
Nur noch wenige Kinderwunschzentren bieten heute die plastisch-chirurgische Rekonstruktion verschlossener Eileiter (proximal, distal, nach Sterilisation) an. Stattdessen wählen sie eine Okklusion oder Entfernung derselben gefolgt von einer In-vitro-Fertilisation. Andererseits hat – insbesondere bei jungen Frauen – die Wiederherstellung der natürlichen Fertilität durch mikrochirurgisch-rekonstruktive Chirurgie (meistens laparoskopisch) nicht nur psychologische Vorteile. Bei guter Selektion (Tuben mit guter Prognose: z. B. bei Sactosalpinx ohne Wandfibrose, ohne intratubare Adhäsionen oder Kompartimentbildung) erzielten wir nach Operation relativ hohe kumulative Schwangerschaftsraten (ca. 50 % innert 1–2 Jahre, eigene Erfahrungen).
Auch bei Refertilisationen nach Tubensterilisationen ergaben sich sehr hohe Schwangerschaftsraten (über 90 % SS) falls ein Eileiter länger als 6 cm, der männliche Faktor normal und das Alter der Patientin unter 40 ist.
In diesem Sinne empfahl auch vor Kurzem die Amerikanische Fertilitätsgesellschaft ASRM ein individualisiertes Vorgehen (Precision-Medizin) tubare Kannulierung bei proximalem Verschluss laparoskopische Rekonstruktion bei prognostisch günstigen distalen Eileiterverschlüssen bei jungen Frauen mikrochirurgische Refertilisierung bei Status nach Tubensterilisation als Methode der Wahl. (Practice Committee of the ASRM Fertil. Steril. 2021; 115:1143-50)
Dies entspricht dem Vorgehen im Kinderwunschzentrum Baden.
ERA (Endometrial Receptivity Analysis)
Die Hoffnung bestand insbesondere bei Frauen mit wiederholtem Implantationsversagen nach IVF, den individuellen optimalen Zeitpunkt der Einnistung des Embryos festzulegen durch Bestimmung des „Window of Implantation“ basierend auf einer mittels Microarray ermittelten transkriptomischen Signatur.
Dies wäre dann ein perfektes Beispiel einer personalisierten Precision Medizin. Erste und weitere Untersuchungen wiesen in diese Richtung (Miravete-Valenciano, J.A. et al., Curr Opinion Obstet Gynecol. 2015; 27:187).
Die erste randomisierte multizentrische Studie zu ERA wurde jedoch stark kritisiert wegen methodischen Mängeln, und da in der Intention to Treat-Analyse keine Unterschiede hinsichtlich Lebendgeburtenrate (LBR) festgestellt wurden. Nur die kumulative LBR-Rate nach 12 Monaten war erhöht.
Eine kritische Analyse der derzeit vorhandenen Daten zum Thema ERA kam zum Schluss, dass der Nutzen des ERA-Tests bis heute nicht nachgewiesen ist, vor allem zusätzliche Kosten verursacht und deshalb nicht empfohlen werden kann (Ben Rafael, Z., Hum. Reprod. Open 2021; 2:hoab010).
PM beim Mann
Bei Männern mit Azoospermie oder schwerer Kryptozoospermie stellt sich die Frage, ob eine Biopsie der Hoden zur Spermienextraktion für ICSI (TESE) überhaupt erfolgsversprechend ist oder ob man primär eine Insemination der Frau mit Spendersamen empfehlen soll.
Vor einer Hodenbiopsie empfehlen wir:
Eine Hormonbestimmung
(FSH, LH, Testosteron), da ein Hypogonadismus mit einer tieferen Erfolgsrate
bei der Hodenbiopsie einhergeht. Zudem sollte ein hypogonadotroper
Hypogonadismus vor der Biopsie mit einer Kombination aus FSH und LH behandelt
werden.
Eine Karyotypisierung des
Mannes (z. B. Identifizierung eines Klinefeltersyndroms).
Molekulargenetische
Abklärung des AZF (Azoospermie Faktor, Variante a–c). Deletionen in der
Azoospermiefaktorregion werden in 5–10 % der Männer mit idiopathischer
Azoospermie gefunden. Im Falle einer nachgewiesenen Deletion ist die
Wahrscheinlichkeit, Spermien in der Hodenbiopsie zu finden, deutlich
vermindert. So besteht bei einer Deletion von AZFa ein Sertoli cell only
syndrome und es können keine Spermien in der Hodenbiopsie gefunden werden.
PGT (Präimplantationsgenetische Testung)
Heute unterscheidet man die PGT-A (Untersuchung der Embryonen auf numerische chromosomale Aberrationen, Aneuploidien) von der PGT-M (Präimplantationsdiagnostik bei monogenetischen Erkrankungen).
PGT-M
Man kennt heute ca. 7000 monogenetische Erkrankungen wobei bei etwa der Hälfte die Gene identifiziert worden und somit einer Diagnostik zugänglich sind. Wir wenden diese bei Paaren an wo: beide Partner Träger der gleichen rezessiv vererbten genetischen Erkrankung sind (z. B.: Thalassämie oder Mukoviszidose) das Paar bereits ein Kind hat mit einer genetisch bedingten Krankheit bei der genetischen Analyse (Trägerscreening) sind beide Partner Träger der rezessiv vererbten Krankheit einer der Partner eine dominant vererbte genetische Erkrankung (z. B.: Neurofibromatose, M.Huntington) hat die Partnerin eine gesunde Trägerin einer X-Chromosomalen Krankheit ist (z. B.: Duchenne Muskeldystrophie, Fragile-X-Syndrom)
PGT-A Screening (Aneuploidie-Screening)
Hier werden bei allen Blastozysten (Tag 5, evtl. 6) mehrere Trophektodermzellen entnommen und auf Aneuploidien gescreent. Alle biopsierten Blastozysten werden kryokonserviert und dann nur die euploiden Embryonen später implantiert. Nach einer anfänglichen Euphorie ist der Wert dieser Methode in der klinischen Praxis heute sehr umstritten. Im Vordergrund der Kritik steht eine mögliche Schädigung der Embryonen durch die Trophektodermbiopsie selbst und neueste Erkenntnisse, dass das Ergebnis (Aneuploidie) der Trophektodermzellen nicht unbedingt mit derjenigen des Embryos (keine Aneuploidie) übereinstimmt. Deshalb raten namhafte Experten zurzeit von einer Anwendung der PGT-A ab.
(Paulson, RJ, Hum. Reprod. 2020; 35:490–3) (Yang, M et al., Nature Cell Biol 2021; 23:314–21)
Fertilitätsprotektion bei genetischer Veranlagung zur vorzeitigen Ovarialinsuffizienz (prämature Ovarialinsuffizienz, POI)
Gut etabliert ist die Fertilitätsprotektion durch Kryokonservierung von Eizellen aus sozialen Gründen (Verschiebung des Kinderwunsches nach hinten, sogenanntes „Social Freezing“) oder vor onkologischen Therapien (Oozyten oder Ovargewebe, Spermien).
Auch Frauen mit POI könnten von einer frühzeitigen Kryokonservierung profitieren.
Eine POI hat eine Prävalenz von ca. 1 % (Hum. Reprod 2016; 31:926).
Das Problem ist, dass bei Diagnosestellung der Zeitpunkt zur Fertilitätsprotektion bereits überschritten ist. Das Interesse konzentriert sich deshalb auf jene 10 % der POI, welche eine genetische Ursache haben. Dank genome wide association studies (GWAS) kennt man heute über 17 Loci die assoziiert sind mit einer frühen Menopause und primärer Ovarialinsuffizienz (Peri, JRB et al., Hum. Mol. Genet. 2013; 22:465).
Die häufigste chromosomale Anomalie, die zu POI führt, ist das Turner Syndrom (X0), während „fragile X“ (FMRI) auf dem x-Chromosom die längste Genanomalie ist. Typischerweise kommen Frauen mit einem Turner Syndrom (X0), welche spontan pubertieren, bereits mit durchschnittlich 29 Jahren in die prämature Menopause. In diesen Fällen ist eine Fertilitätsprotektion frühzeitig in Betracht zu ziehen.
BRCA-Mutationen
Da bei BRCA-1-Mutationen heute eine Adnexektomie um das 40. Lebensjahr empfohlen wird (bei BRCA-2-Mutationen zwischen 45 und 50), stellt sich auch hier die Frage der Fertilitätsprotektion, welche unserer Meinung nach auch im Rahmen einer genetischen Beratung von BRCA-Trägerinnen einfliessen müsste. Umso mehr als neuerdings in einer Metaanalyse eine Assoziation zwischen BRCA-Mutationen und verminderter Ovar Reserve festgestellt wurde (niedriges AMH) (Turan, V et al., J. Clin. Oncol. 2021; doi: 10.1.1200/JCO, 20.02880).
Zukünftige Entwicklungen
Genetische Defekte spielen definitiv eine Rolle bei Sterilität/Infertilität. Heute rechnet man, dass ca. 15–30 % der männlichen Infertilitätsfälle auf genetische Faktoren zurückgehen (Neto, FTL et al., Curr. Urol. Reports 2016; 17:70–80).
Bei Frauen sind diese meist polygenetisch, was die Situation nicht vereinfacht.
Die Frage ist nur, inwieweit diese eine praktische Relevanz haben (siehe oben genannte Beispiele).
Derzeit sieht es so aus, dass erst wenn es gelingt, spermatogoniale bzw. oogoniale Stammzellen zu isolieren und zu züchten völlig neue Therapien entwickelt werden können.