Muss denn Essen Religion sein?
Ich stehe in der Warteschlange eines grossen Kaffeeanbieters, den ich normalerweise nicht berücksichtige, jetzt aber aus Zeitgründen und bei megadringendem Koffeinbedarf dennoch nutze.
Vor mir: Zwei Frauen, die sich in verschiedene Bestellungen von Café Latte, Cappuccino und Mineralwasser ergehen. Die Bedienung fragt, ob normale Milch, Hafer oder Oat angesagt ist. Eine längere Diskussion der beiden Kundinnen entbrennt über
1. persönliche, nie
diagnostizierte, aber dennoch mögliche Laktoseintoleranz;
2. ökologische
Auswirkungen der Milchwirtschaft, die frau boykottieren sollte;
3. den Geschmack von
Hafer- oder Oatmilch und welche Umweltauswirkungen das Umschwenken auf diese
Arten von Milch haben könnte.
Die Warteschlange hinter mir reicht mittlerweile bis zur Eingangstür, die beiden Herzchen sind dessen völlig ungerührt und diskutieren nun über die ethischen Folgen der Schwangerschaften für die Kühe, das üblicherweise fehlende Gestillt-Werden der Kälber. Bestellung wurde konkret noch nicht aufgegeben, vorher müssen die Probleme der Welt geklärt werden, Bedienung wartet leicht entnervt.
Rützler schreibt in ihrem Restaurantführer „Essen wird zur Religion“. Wie kann das sein? Die Bedeutung, die wir Essen und Trinken geben, wird zur Lebensanschauung, in der es nur richtig und falsch gibt und nichts dazwischen. „Leute unterhalten sich in der Kantine mit religiösem Eifer über ihre Essgewohnheiten und verschiedene Anschauungen stehen gegeneinander“, wurde vom Theologen Kai Funkschmidt bemerkt.
In der Vergangenheit behandelte die Ernährungsdebatte gesundes Essen, schönes Essen, leckeres Essen, allenfalls den einen oder anderen Fleischskandal oder halal, kosher und glutenfrei, jetzt wird das richtige Essen zum Symbol für das richtige Leben.
Der moralische Wert der Nahrungsmittel wird wichtiger als der Nährwert, und man muss in jedem Fall seinen Nachbarn von der eigenen Überzeugung profitieren lassen.
Zurück zu meiner Bestellsituation: Man hat sich vor mir auf Hafermilch trotz unüberschaubarer ökologischer Konsequenzen geeinigt. Immerhin. Die Schlange hinter mir reicht bis in den Berner Bahnhof hinein, es ist saukalt.
Wie schön, wenn wir unser Essen und Trinken geniessen und würdigen können. Vielleicht mit einer Portion Dankbarkeit, dass wir überhaupt etwas haben.