Ausgeprägte Mikrognathie
Leider hat dieses Mal niemand auf unser Sonoquiz geantwortet. War es so schwer? Nein, das glauben wir nicht. Es ist klar, dass wir hier mit einem syndromalen Krankheitsbild konfrontiert sind mit verschiedenen Merkmalen und eben diesem auffälligen Profil, welches einer Mikrognathie entspricht. Bereits pränatal sind beidseitige präaurikuläre Anhängsel, eine diskrete Borderlineventrikulomegalie, Extremitätenfehlstellungen/-fehlbildungen, ein Polyhydramnion sowie eine intrauterine Wachstumsrestriktion (IUWR) nachgewiesen worden. Die Mutter ist in der 33. SSW stationär in unserer Frauenklinik aufgenommen worden zur intensivierten Überwachung und Lungenreifungsinduktion. Eine genetische Abklärung wurde empfohlen; jedoch pränatal von den werdenden Eltern nicht gewünscht. Bei im Verlauf Verschlechterung der fetalen Hämodynamik mit REDF (reversed end-diastolic flow) und zunehmend erschwerter fetaler Überwachung wurde die Indikation zur Sectio in der 35. SSW gestellt. Es wurde ein etwas schlapper und zarter Knabe entbunden. Die IUWR bestätigte sich bei einem Kindsgewicht von 1600 g (P3). Aufgrund der ausgeprägten Mikrognathie und zur Stabilisation der Atemwege wurde das Kind intubiert. Neben Mikro-/Retrognathie fanden sich weitere Merkmale wie Gehörgangatresie bds., Ohranhängsel bds., tiefsitzende Ohren, absteigende Lidachsen, Fehlbildungen an den Extremitäten (Daumenagenesie rechts, Pes equinovarus rechts, Vd. a. Vorderarm-Dysplasie rechts). Die genetische Abklärung ergab eine sogenannte Akro-kranio-faziale Dysostose vom Typ Nager (AFD1). Genetisch lässt sich bei diesem Syndrom eine heterozygotene Frameshift-Variante im SF3B4-Gen nachweisen. Bei schwieriger Atemwegssituation erfolgte die Tracheostomaanlage in den ersten Lebenswochen. Zur Ernährung wurde eine offene Gastrostomie-Anlage im Alter von zehn Monaten angelegt. Das Kind zeigt im Alter von einem Jahr eine kognitiv altersentsprechende Entwicklung, eine motorische Entwicklungsverzögerung und durch die Schwerhörigkeit und Tracheostoma erklärte schwere Sprachentwicklungsverzögerung. Im Alter von rund einem Jahr startete auch eine Physiotherapie/Logopädie zur Erlernung der Gebärdensprache. Die Eltern sorgen sich weiterhin liebevoll um ihr Kind.
Die Mikrognathie gehört zu den Gesichtsfehlbildungen, welche durch eine geringe Größe des Unterkiefers charakterisiert sind und dem Fetus in der Profilansicht das Aussehen eines „fliehenden Kinns“ und eines Überbisses verleiht. Als eine der häufigsten kraniofazialen Fehlbildungen geht die Mikrognathie in der Regel mit Retrognathie, Glossoptose (eine Rückverlagerung der Zunge in den Rachen) und Obstruktion der oberen Atemwege einher, die das Erscheinungsbild des Säuglings stark beeinträchtigen, die Nahrungsaufnahme erschweren und sogar das Überleben des Säuglings gefährden können. Vor allem Atemprobleme können zu perinatalen Notfällen führen. Darum ist die pränatale Diagnose der Mikrognathie entscheidend. Die Assoziation mit Syndromen ist häufig und auch eine genetische Komponente muss ausgeschlossen werden. Bekannte Syndrome, welche mit einer schweren Mikrognathie (und anderen Fehlbildungen) einhergehen, sind z. B. das Treacher-Collins-Syndrom (Synonyme Franceschetti-Syndrom), die Pierre-Robin-Sequenz, das Nager-Syndrom (unser Fall) und zahlreiche mehr unterschiedlicher Ausprägung (1). Die Entbindung sollte in einem Zentrumsspital erfolgen.
Die pränatale Diagnose von Mikrognathie wurde ursprünglich hauptsächlich durch die Beurteilung von midsagittalen Ultraschallbildern des fetalen Gesichtsprofils gestellt. Es gibt aber nach wie vor Kontroversen über einfache und effiziente Methoden zur Diagnose und Bewertung von Mikrognathie. Cang et al. haben in einem systematischen Review alle veröffentlichten Studien zur pränatalen bildgebenden Diagnostik der Mikrognathie zusammengefasst (2). Es wurden 30 biometrische Parameter definiert, um Mikrognathie zu beschreiben. Diese werden in drei Kategorien eingeteilt, und zwar dem Winkel im Gesichtsprofil, Messungen der Unterkieferbiometrie und Beobachtungsmerkmale (Tabelle 1 und Bildergalerie 1).
Gemäss den Autoren sind die folgenden Messungen und Messparameter brauchbar für die Diagnose einer Mikrognathie: IFA <50°, FNMA <135,91°, MNMA >14,20°, MFA/MMFA >0,75, FMA <66°, Unterkieferprotrusion <66,65°, APD/TD <0,45, Kieferindex <24, MDW/MXW <0,785, maxilläre/mandibuläre Korpuslänge >0,0558, Kinn-/Philltrumlänge <2,06, Mittelgesichts-/Untergesichtstiefe >1,01, Ober- und Unterkieferkrümmung >1,03, negative FP-Linie, Fehlen einer Unterkieferlücke.
Eine genetische Untersuchung mittels Amniozentese sollte auf jeden Fall diskutiert und angeboten werden, insbesondere, wenn zusätzliche Fehlbildungen darstellbar sind.
Literatur
1. Bernfried Leiber
(Begründer): Die klinischen Syndrome. Syndrome, Sequenzen und
Symptomenkomplexe. Hrsg.: G. Burg, J. Kunze, D. Pongratz, P. G. Scheurlen, A.
Schinzel, J. Spranger. 7., völlig neu bearb. Auflage. Band 2: Symptome.
Urban & Schwarzenberg, München u. a. 1990, ISBN 3-541-01727-9.
2. Cang Z et al.,
Prenatal diagnosis of micrognathia: a systematic review. Front. Pediatr. 2023;
11:1161421