Bürokratie bei Kaderärzten / AI in der Wissenschaft/Eigenschaft des Kamut Getreides / Risiko für Plazentalösung durch Blutgruppe A? / BMI vs. BRI / VET bei GSM / Chia-Samen bei chronischem Entzündungsprozess / Zunahme der Zervix-Cerclagen in Australien / Evidenz von Vitamin C bei Erkältungskrankheit / Fertilitätserhaltung bei Ovarialkarzinom
Eine aktuelle Umfrage in
Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz des Marburger Ärztebundes mit über
2000 Ärztinnen und Ärzten zeigte, dass pro Tag nur 2,5 Stunden für
die direkte Patientinnenversorgung zur Verfügung stand, aber fünf Stunden durch
administrative Arbeit verloren gingen. Fast 60 % der Befragten gaben an, selten
oder nie genügend Zeit für die Ausbildung jüngerer Ärzte zu haben. Auch für die
eigene Fortbildung innerhalb der Arbeitszeit fehlte die Zeit.
Nach einer weiteren Umfrage des deutschen
Krankenhausinstituts wenden Ärztinnen und Ärzte aller Hierarchiestufen zirka
ein Drittel ihrer Arbeitszeit mit Dokumentation und Nachweispflichten auf. Sehr
viel Zeit wird insbesondere für die sogenannte „Qualitätssicherung“ verwendet.
Kommentar
In der Schweiz ist dies
vielleicht etwas weniger krass, aber wie wir alle wissen, ein wachsendes
Monster, insbesondere was unter dem Mantel der Qualitätssicherung verlangt
wird. Bei einer globalen Medscape-Analyse zeigte sich, dass bei den
Burnout-Faktoren an oberster Stelle zu viel Bürokratie (52 %) stand. Doch wer
hat den Mut und die Kraft, hier mit Gewalt dreinzuschlagen?
Michael K. Hohl
In der Medizin und Wissenschaft spielt KI
eine immer wichtigere Rolle (FHA 2/24; Betrifft). In einem Leitartikel
präsentierten die Präsidentin der National Academy of Sciences, M. McNutt,
sowie über 20 Mitautorinnen und -autoren aus Wissenschaft, Industrie und
Regierung zentrale Prinzipien für die Nutzung generativer KI in der Forschung.
Sie warnten davor, dass KI zwar wissenschaftliche Entdeckungen beschleunigen
könne, die damit verbundenen Werkzeuge und Prozesse – insbesondere
generative KI – jedoch einige grundlegende Normen und Werte der
Wissenschaft infrage stellen könnten, darunter Rechenschaftspflicht,
Transparenz, Reproduzierbarkeit und menschliche Verantwortung.
Die folgenden fünf Prinzipien sollten bei
allen durch KI unterstützten wissenschaftlichen Arbeiten berücksichtigt werden:
1) Transparente
Offenlegung und Zuordnung der KI-Nutzung
2) Überprüfung
von KI-generierten Inhalten und Analysen
3) sorgfältige
Dokumentation von KI-generierten Daten
4) Fokus
auf ethische Grundsätze und Gerechtigkeit
5) kontinuierliche
Überwachung und Anpassung der KI-Nutzung sowie der zugrundeliegenden Prinzipien
(Blau W et al., Proc Natl Acad Sci USA; doi.org/10.1073/pnas.2407886121)
Michael Mueller
Kamut ist ein sogenanntes „altes Getreide“,
das in den letzten Jahren immer mal wieder in der positiven Ernährungspresse
gewesen ist, weil es im Vergleich zu Weizenprodukten und anderen Getreiden viel
mehr Proteine als Kohlenhydrate hat. Ich kenne Kamut in Form von Teigwaren, am
liebsten Spaghetti, was in Italien in praktisch allen konventionellen
Supermärkten zu kaufen ist, hier bei uns in ausgewählten Geschäften. Geschmack
und Konsistenz sind sehr ähnlich im Vergleich zu konventionellen Teigwaren.
Die vorliegende Studie hat untersucht, ob
Kamut antioxidative Eigenschaften hat, und diese konnten hier signifikant nachgewiesen
werden (Razem M et al., Food Chem X2024; 13; 21:101216).
Annette Kuhn
Kommentar
Ich weiss nicht, wieso man auf diese Idee gekommen ist, das Risiko einer
Frühgeburt in Abhängigkeit der Blutgruppe zu untersuchen. Noch weniger kann ich
mir erklären, wieso Frauen mit einer Blutgruppe A ein höheres Risiko einer
frühen Frühgeburt infolge einer vorzeitigen Plazentalösung haben sollten!?
Sonst gibt es keine Assoziation zwischen der Blutgruppe oder auch dem Rhesusfaktor
und Frühgeburtlichkeit. Die Studie ist insofern relevant, da die Autoren über
19 000 Frauen untersucht haben (Rom E, et al., Reprod. Sci. 2024;
https://doi.org/10.1007/s43032-024-01705-6).
Luigi Raio
Der Schwachpunkt des BMI liegt auf der Hand: der Muskelmasse respektive dem Verhältnis von Muskelmasse und Fettmasse (v. a. auch viszeral) wird nicht Rechnung getragen. Hierfür erscheint der BRI, der das Verhältnis von Hüftumfang zur Körpergrösse berücksichtigt, besser geeignet. In einer jüngst veröffentlichen Studie mit 33 000 US-Amerikanern wurde nachgewiesen, dass der BRI mit einer erhöhten Gesamtsterblichkeit assoziiert ist. Die Berechnungsformel für den BMI lautet: 364.2 − 365.5 × √(1 − [Hüftumfang in cm/2π]2 / [0.5 × Höhe in cm]2). Dafür muss dann definitiv eine App erfunden werden … (Xiaoqian Z et al., JAMA Netw. Open 2024; 7e2415051)
Martin Heubner
Eine systematische Übersichtsarbeit und Meta-Analyse von acht Beobachtungsstudien mit insgesamt 61 695 Patientinnen zeigte, dass die VET weder mit einem erhöhten Risiko für Brustkrebsrezidive noch mit einer höheren brustkrebsbedingten Mortalität oder Gesamtmortalität assoziiert ist. Die Ergebnisse deuten sogar auf eine mögliche Reduktion der Gesamtmortalität hin.
Zentrale Ergebnisse der Studie:
1. Rezidivrisiko:
Kein signifikant erhöhtes Risiko für Brustkrebsrezidive bei VET-Anwenderinnen
(OR 0,47; 95 %-KI 0,23–0,98)
2. Brustkrebsspezifische
Mortalität: Kein signifikant erhöhtes Risiko (OR 0,59; 95 %-KI 0,17–2,01).
3. Gesamtmortalität:
Reduzierte Gesamtmortalität bei VET-Anwenderinnen (OR 0,45; 95 %-KI 0,41–0,49).
Es ist jedoch zu beachten, dass die
Meta-Analyse ausschließlich auf Beobachtungsstudien basiert, was eine
potenzielle Verzerrung durch den „Healthy-User-Bias“ nahelegt. Frauen, die VET
anwenden, könnten insgesamt gesünder sein. Zudem war die Studienpopulation in
Bezug auf Patientenkollektiv, Dauer und Dosierung der VET heterogen, was die
Interpretation der Ergebnisse erschwert.
Die Berechnung des „Reverse Fragility
Index“ stärkt jedoch die Zuverlässigkeit der Ergebnisse, weshalb die Analyse
als vorsichtige Entwarnung hinsichtlich der Sicherheit von VET bei Brustkrebsüberlebenden
interpretiert werden kann. Dennoch sind definitive Empfehlungen erst nach
Vorliegen randomisierter Studien möglich.
Angesichts der potenziellen Verbesserung
der Lebensqualität bei GSM kann VET nach individueller Risiko-Nutzen-Abwägung
eine vielversprechende Behandlungsoption darstellen (Beste ME et al., AJOG,
doi.org/10.1016/j.ajog.2024.10.054).
Michael D. Mueller
Chia-Samen sind ja praktisch für alles gut,
haben positive Einflüsse auf den Stoffwechsel und den Lipidstatus und
unterstützen Gewichtsabnahme.
Diese kürzlich erschienene Studie hat am
induzierten Inflammationsmodell die Einflüsse von Chia-Samen auf chronische
Inflammation untersucht und gefunden, dass Chia-Samen antiinflammatorische
Effekte haben – ein weiter Grund, diese Multitalente zu konsumieren!
(Colussi N et al., Medicina 2024; 84:206–20)
Annette Kuhn
Kommentar
Es ist eine
retrospektive Kohortenstudie, welche die Politik einer Zervix-Cerclage vor und
nach Einführung eines generellen sonographischen Zervixscreenings untersucht
hat. Dabei wurden vor dem Screening in 2.5/1000 Geburten eine Cerclage
indiziert und danach in 6/1000 Fällen (p <0.01). Cerclagen aus
anamnestischen Gründen reduzierten sich von 50 % auf 30.4 % (p <0.001),
während die sonographisch indizierten Cerclagen sowohl bei Frauen mit hohem
Risiko (Zustand nach Frühgeburt, ≥3 Fehlgeburten, >1 Spätaborten,
bekannte Uterusfehlbildung, Zustand nach Konisation) von 21.7 % auf 36.6.% und
bei den Niederrisikofrauen von 11.7 % auf 30.4 % angestiegen sind
(p <0.001). Das Gestationsalter wurde tatsächlich verlängert, speziell
bei den Frauen mit niedrigem Risiko. Der retrospektive Charakter dieser Studie
limitiert etwas die klinische Relevanz. Nichtdestotrotz erscheint sie mir
interessant, auch wenn randomisierte Studien eher das Gegenteil zeigen. Das
Progesteron war noch nicht so verbreitet in Australien und wurde hier nicht
untersucht. Wäre auch interessant gewesen (Rawashdeh H et al., Int J Womens
Health. 2024; 16:1755–64, https://doi.org/10.2147/IJWH.S477974).
Luigi Raio
Die Saison ist bereits wieder eingeläutet, und so banal der grippale Infekt ist: er ist lästig und volkswirtschaftlich durch Arbeitsausfälle durchaus relevant. Viele Erkältungsmedikamente enthalten Vitamin C, dem seit Jahrzehnten eine positive Wirkung zugeschrieben wird. Studiendaten wurden jedoch immer wieder kontrovers diskutiert. Eine Metaanalyse hat nun bestätigt, dass die Gabe von >1 g Vitamin C moderat, aber signifikant (15 %) die Symptome einer Erkältung abschwächen und deren Dauer abkürzen kann. Dass mit einer dauerhaften Supplementierung von Vitamin C das Auftreten von Erkältungskrankheiten vermeiden wird, ist dagegen nicht belegt (Hemilä H, Chalker E, BMC Public Health 2023; 23:2468).
Martin Heubner
In einer retrospektiven Multizenter-Studie wurden 366 Patientinnen unter 40 Jahren mit einem frühen Ovarialkarzinom (FIGO I–II), die in 55 spanischen Kliniken operiert wurden, analysiert. Bei 41 % der Patientinnen wurde eine fertilitätserhaltende Operation (Fertility-Sparing Surgery, FSS) durchgeführt, während bei 59 % die standardmäßige operative Stadieneinteilung (Standard Staging Surgery, SSS) erfolgte. Die Ergebnisse zeigen, dass FSS bei geeigneten Patientinnen onkologisch sicher ist. Es gab keine signifikanten Unterschiede in den Rezidiven (8 % bei FSS vs. 9,3 % bei SSS) oder den Sterblichkeitsraten (1,3 % vs. 4,8 %). Patientinnen, die FSS erhielten, waren jünger (Durchschnittsalter 29,8 Jahre vs. 35,2 Jahre bei SSS) und häufiger mit nicht-epithelialem Ovarialkarzinom diagnostiziert, welches eine bessere Prognose aufweist. Die Nachbeobachtungszeit war in beiden Gruppen vergleichbar (Heras M et al., Int J Gynecol Obstet, DOI: 10.1002/ijgo.16026).
Kommentar
Auch die
AWMF-S3-Leitlinie zur Diagnostik, Therapie und Nachsorge maligner
Ovarialtumoren bietet spezifische Kriterien für fertilitätserhaltende
Maßnahmen. Sie legt fest, dass diese Option besonders für junge Patientinnen
mit frühen Stadien des Ovarialkarzinoms (FIGO I) geeignet ist,
insbesondere bei günstiger Tumorbiologie (z. B. low-grade oder
nicht-epitheliale Tumoren) wie in der oben erwähnten Arbeit. Die Entscheidung
für eine Fertilitätserhaltung sollte jedoch individuell getroffen werden,
basierend auf einer multidisziplinären Fallbesprechung und nach umfassender
Aufklärung der Patientin über Risiken und Vorteile.
Michael D. Mueller