Der elektronische Propf im Ohr
Der Homunkulus stellt die anatomische Unterteilung des primären motorischen und des primären somatosensorischen Kortex visuell dar. Das Wort „Homunculus“ stammt aus dem Lateinischen und bedeutet „Männchen“. Es beschreibt, wie unser Körper im Gehirn wahrgenommen wird und wie die Nervenzellen in diesen Bereichen verteilt sind, um diese Wahrnehmung zu erzeugen. Die Größe eines Körperbereichs ist nicht proportional zu seiner Repräsentation im kortikalen Homunkulus.
Als Student hatte es mich immer fasziniert, dass bestimmte Bereiche wie Hände, Lippen und Gesicht aufgrund der Bedeutung der Feinmotorik und der starken Innervation dieser Bereiche unverhältnismäßig große Bereiche des Kortex einnehmen. Wahrscheinlich müsste der Homunkulus in den Anatomiebüchern neu gezeichnet werden, um einen neuen Körperteil, den Kopfhörer oder Ohrstöpsel, darstellen zu können.
Dieser Körperteil würde wahrscheinlich den größten Teil des Homunkulus ausmachen, denn immer mehr Menschen flüchten sich, sobald sie das Haus verlassen, in ihre kabelgebundenen oder bluetooth-verbundenen Kokons. Wir leben in einer Zeit, in der das Abspielen von Spotify-Playlists und Podcasts das Orchester des Lebens zu übertönen scheint.
Einmal aufgesetzt, werden die Kopfhörer zu einem Schutzschild gegen die Grausamkeit der Gesellschaft, zu einer Schallmauer, die das Individuum vor den Schrecken des zwischenmenschlichen Kontaktes schützt.
Es ist ein Phänomen, welches nicht nur die Jugendlichen betrifft, sondern sich wie eine ansteckende Krankheit auf alle Altersgruppen ausbreitet. Ein Blick in die Welt da draußen zeigt uns die absurde Realität. Es beginnt schon beim morgendlichen Gassigehen mit dem pelzigen Freund an der Leine. Anstatt die frische Luft zu genießen und die Geräusche der Natur aufzusaugen, sind die meisten Hundebesitzerinnen und Hundebesitzer damit beschäftigt, die neueste Playlist zu kuratieren. Denn warum sollte man die Vögel zwitschern hören, wenn man stattdessen die neuesten Chart-Hits durch die Ohren gepresst bekommen kann?
Beim Spazieren mit dem Kinderwagen sind die Eltern lieber damit beschäftigt, ihre Lieblingspodcasts zu hören oder mit den Stöpseln zu telefonieren, anstatt mit dem Kind zu interagieren und die Bindung zu stärken. Und dann ist da noch das Joggen. Menschen joggen mit Ohrhörern, als ob sie versuchen würden, vor ihren eigenen Gedanken wegzurennen.
Selbst im öffentlichen Verkehr, wo die Möglichkeit besteht, mit Fremden zu interagieren und vielleicht sogar eine geistige Verbindung zu knüpfen, werden die Ohrhörer fest eingeklinkt. Es ist, als ob die Angst vor den realen Geräuschen so überwältigend ist, dass sie sogar die dröhnenden Geräusche der Eisenbahn oder des Trams übertönen muss. Die Ohrhörer dienen nicht nur dazu, Musik zu hören, sondern auch als subtile Botschaft: „Sprich mich nicht an, ich bin beschäftigt, auch wenn ich gerade nur auf Instagram surfe.“
Die Kopfhörer sind so sehr zu einem Teil des Körpers geworden, dass es immer wieder vorkommt, dass Patientinnen vergessen, sie während der Sprechstunde abzunehmen. Die Patientinnen betreten den Raum mit den Stöpseln in den Ohren und man weiß nicht, ob sie einem zuhören, noch mit einer anderen Person telefonieren oder nur den neuesten Podcast über mysteriöse Krankheiten hören. Nach ein paar Handzeichen und der höflichen Bitte, die Fremdkörper zu entfernen, kommt die überraschende Antwort: „Oh, das hatte ich ganz vergessen!“ oder noch erstaunlicher: „Oh, stört Sie das?“
Ja, denn ich möchte direkt mit Ihnen kommunizieren und bin dankbar, wenn ich weiß, dass Sie akustisch hören, was ich sage. Es scheint, als seien die Kopfhörer zu einer verlängerten Realität geworden, zu einer Art Matrix, in welche sich die Menschen vor den Widrigkeiten des Lebens flüchten können. Doch während sie sich in ihrem akustischen Kokon verstecken, verpassen sie vielleicht die wahren Klänge des Lebens: das Lachen eines Freundes, das Rascheln der Blätter im Wind oder sogar das leise Pochen des eigenen Herzens.