Uropa
Die
Geschichte einer Entdeckung, die auch noch 130 Jahre später genauso wie
damals in pathologischen Instituten und Museen der ganzen Welt täglich zur
Anwendung kommt, könnte auch für unsere Leserschaft interessant sein.
Aber – davon abgesehen – Uropa war für mich kleinen Buben auch ein
ganz besonderer Mensch
Ostersonntag im Wintergarten mit seinen farbigen Jugendstilglasfenstern im Parterre der Klosbachstrasse 58 in Zürich. Das Eier-und-Hasen-Suchen im Garten war schon vorbei (Abb. 1). Uropa, mein Bruder und ich sassen am eckigen Tisch. Die Fenstersimse waren mit Aquarien verstellt, die voll waren mit monströsen Kaulquappen, die einfach nicht metamorphieren wollten, da Uropa sie mit geheimnisvollen Substanzen gefüttert hatte (er forschte damals über die Schilddrüse, M. Basedow). Den Froschlaich hatten wir zuvor mit unserem Vater im Katzensee gesammelt – das durfte man damals noch und es war ein unvergessliches Abenteuer für uns Kinder.
Uropa sagte zu uns: Es gibt da noch etwas zu finden, schaut genau! Wir schauten: nichts ausser zwei winzigen Zuckereiern, die ich irgendwann sah, aber für bedeutungslos hielt. Er fragte immer wieder, sicher eine halbe Stunde lang und liess nicht locker. Dann erst zeigte er auf die zwei Winzeier. Das habe ich fürs Leben behalten.
Prof. Dr. med. h.c. Ferdinand Blum war damals fast 90 Jahre alt (Abb. 2). Neben seinem täglichen Training mit den 25 kg schweren Hanteln (was mich sehr beeindruckte, wie auch sein stattlicher Bizeps) und seinen ausgedehnten Wanderungen, schrieb und dachte er jeden Abend bis Mitternacht nach, in seinem Studierzimmer.
1893 hatte sich der frisch niedergelassene Arzt Dr. Ferdinand Blum im Stockwerk über seiner Wohnung im Frankfurt am Main ein Forschungslabor eingerichtet. Er untersuchte die Desinfektionswirkung des Formaldehyds und machte die epochale Entdeckung, dass die von ihm gewählte 4 % verdünnte HCHO(-Formaldehyd)-Lösung zu einer raschen Gewebshärtung führte, viel rascher als der bisher verwendete Alkohol. Eine Beobachtung, die er zuerst an seinen Fingern machte (Epidermisverhärtung).
Er stellte rasch fest, dass die Färbbarkeit mit allen gängigen Farblösungen hervorragend war (auch Bakterien und Erythrozyten stellten sich klar dar. Er schrieb:
„Selbst grössere Gewebestücke werden rasch und ohne Schrumpfung gehärtet, dabei erhält sich die mikrosko-pische Gewebsstruktur und Färbbarkeit von Zellleib sowohl wie Zellkern bewahren ihren Gehalt und Kernteilungsfiguren werden fixiert. Die roten Blutkörperchen treten deutlicher als bei ausschliesslicher Alkoholhärtung hervor, Muzin wird nicht gefällt, Fett scheint nicht ausgelaugt zu werden. Mikroorganismen bewahren ihre spezifische Färbbarkeit.“
Er überreichte diese Publikation (gerade 1 ½ Seiten lang) (Zeitschrift für wissenschaftliche Mikroskopie und mikroskopische Technik 1893; 10:314–5) (Abb. 3a und b) seiner jungen Frau als Hochzeitsgabe. Zum Fest war auch Geheimrat Weigert (Weigertsche Färbung) eingeladen, der dann zur raschen Verbreitung der Methode wesentlich beitrug. Mittels QR-Code (Abb. 4) können Sie das historische Audiodokument abhören, in welchem der 92-jährige die Geschichte der Entdeckung selbst schildert.
Ferdinands Vater, Jsaac Blum, weiland Direktor des Senckenbergischen Naturkundemuseums in Frankfurt am Main, stellte rasch fest, dass die neue Methode im Gegensatz zum bisher verwendeten Alkohol die Objekte naturgetreu ohne Schrumpfung konservierte, die Farben besser erhielt, die Pupillen unverändert liess ( Blum, J., Zool. Anzeiger 1893;434:1–3). J. Blum war eine Kapazität für Kreuzottern in Europa. Dieses Exemplar einer kleinen Kreuzotter entstand in den 1890er Jahren und steht seit Uropas Tod auf meinem Schreibtisch (Abb. 5).
Auch im 21. Jahrhundert gilt die Formalin-Fixation immer noch auch für neue Methoden als „The holy grail for molecular diagnosis“ (Ponczo, B., Cuttman, H.; J. Pharm. Biomed Anal. 2018; 155:125–34) (Abb. 6).
In den vergangenen 130 Jahren wurden zahlreiche Alternativen getestet. Trotzdem blieb die Formalin-Fixierung mit Paraffineinbettung „die histologische Methode schlechthin“. Fast unerschöpfliche Informationen liegen als Schatz in den Archiven der Institute und harren neuer Analysemethoden.
Die Praxis von F. Blum florierte. Bemerkenswert finde ich, dass er jeden Nachmittag eine Gratissprechstunde für Leute ohne finanzielle Mittel abhielt.
Auch das ist für uns heute kaum zu glauben: Seine Ehefrau Emma, die im Übrigen das ganze Leben der grossen Familie organisierte und regelte, schrieb anstatt einer Rechnung vierteljährlich an die wohlhabenden Patienten einfach: „Herr Professor belieben zu liquidieren“, worauf immer mehr reinkam, als wenn sie eine Summe verlangt hätte.
Sein Freund und Patient, der Nobelpreisträger Geheimrat Paul Ehrlich, und reiche Frankfurter Familien (Rothschild, Mertens) unterstützten auch die Forschung ihres Hausarztes und finanzierten sein neu gegründetes „Biologisches Institut“, aus dem weitere wichtige Entdeckungen hervorgingen, unter anderem die Entdeckung des Nebennierendiabetes (1901) und die Extraktion und Charakterisierung einer hyperglykämisierenden Substanz aus dem Pankreas (1927, Glukagon).
Weitere Forschungen zur Wirkweise des Formalins, über die Schilddrüsenfunktion u. a. bildeten Schwerpunkte. 1907 wurde ihm der Professorentitel der Universität Frankfurt verliehen.
Nebenbei entwickelte er Medikamente, die halfen, die ganze Familie, die in grosser Wohngemeinschaft an der Arndtstr. 51 lebte (siehe TV-Feature von E. Fechner, Hessischer Rundfunk: „Unter Denkmalschutz“), durch die schwierigen Zeiten der 1920er und 1930er Jahre sicher zu leiten.
Das Bekannteste, „Tonophosphan“, wurde ein Bestseller und ironischerweise offenbar auch Adolf Hitler regelmässig von seinem Leibarzt injiziert.
Uropa blieb bis zum fast allerletzten Moment in Frankfurt und glaubte, wie leider viele andere, dass ihm persönlich nichts passieren könne. Meine Mutter und meine Tante durften als ¼-Jüdinnen nicht in Nazi-Deutschland studieren. Uropas enge Verbindungen zur Schweiz ermöglichten das Medizinstudium in Zürich, wo meine Mutter meinen Vater als Co-Studenten kennen- und lieben lernte. In den letzten Tagen vor Kriegsbeginn gelang endlich die Ausreise zusammen mit Frau, einer Tochter und Grosskindern – mit CHF 40.– in der Tasche, in letzter Minute (Abb. 7a,und 7b). Der damals 74-Jährige begann quasi mit nichts wieder von vorne. Das Patent, das er in seiner Tasche mitbrachte für das sehr erfolgreiche, von der Firma Siegfried AG in Zofingen hergestellte C- und B-Phos half, die Kriegs- und Nachkriegsjahre zu überstehen. Die endokrinologische Forschung in den Laboratorien der Siegfried AG ging weiter fast bis zu seinem Tode im 94. Lebensjahr.
Erstaunlicherweise nahm er bald nach dem Krieg die Beziehungen zu Deutschland wieder auf, empfing die Ehren der Universität (Dr. h.c.)., der Stadt Frankfurt (Goethe-Medaille), der Bundesrepublik (Verdienstkreuz), nach dem Tod noch einen „Stolperstein“ und war stolz, dass das nun nach ihm benannte ehemalige biologische Institut als „Ferdinand Blum Institut“ weiterbestand und heute noch besteht.
Für uns war Uropa der Gütige, Fröhliche, der uns auf seinen Knien reiten liess und dazu sang: „Langsam Schritt, die Schneck will mit …“, der uns immer spannende Geschichten erzählte, den ganzen Fami-lien jeden Sommer und Winter ausgedehnte Ferien schenkte. Dies begann schon 1905 mit der ersten Winterreise auf die Lenzerheide, wo der nach ihr benannte Piz Gertrud immer noch an meine Grosstante erinnert.
Alles war bei ihm eine Selbstverständlichkeit und seine geliebte Emma (Emmingle) steckte allen immer wieder etwas in die Tasche.
Uropa – mein unerreichbares Vorbild.
Welch gelungene Work-Life-Balance.