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Zum Jahreswechsel Für die Herausgeber Prof. Martin Heubner Auch 2500 Jahre nach Hippokrates sollte die Wissenschaft und nicht ­ Marketing unser medizinisches Handeln leiten Für die Herausgeber Prof. Michael D. Mueller

Zum Jahreswechsel

Silvester wird weltweit gefeiert. Allerdings auf höchst unterschiedliche Art. Rituale, die Glück für das kommende Jahr bringen sollen, muten für Aussenstehende manchmal skurril an. In Spanien gibt es zum Beispiel den Brauch, um Mitternacht pro Glockenschlag der Kirchturmuhr eine Traube zu essen. In Portugal hält man dagegen eine Münze in der Hand, um Geldsegen zu fördern. In Brasilien trägt man zum Jahreswechsel gerne weisse Kleidung und wer am Strand feiert, soll über sieben Wellen springen. In Italien begeht man das Neue Jahr in roter Unterwäsche. Sympathisch ist mir ein Brauch aus Argentinien: alte Urkunden und Dokumente schreddern und aus dem Fenster werfen! Raketen abfeuern und Fondue essen wirkt gegen diese Beispiele recht gewöhnlich, aber zumindest letzteres hat für mich einen handfesten Nutzen!

Wir wünschen ein gutes neues Jahr!

Für die Herausgeber

Prof. Martin Heubner

Auch 2500 Jahre nach Hippokrates sollte die Wissenschaft und nicht Marketing unser medizinisches Handeln leiten

In der Pharmaindustrie wird seit Langem darüber debattiert, wie wertvoll es ist, als Erster auf den Markt zu kommen. Unternehmen wenden beträchtliche Ressourcen auf, um die Chancen zu erhöhen, ihre Konkurrenten auf dem Markt zu schlagen, und ärgern sich oft über den kommerziellen Nachteil, wenn sie zu spät kommen. Im Wettlauf um die Markteinführung einer neuartigen Wirkstoffklasse oder eines neuen medizinischen Tests sind die Unternehmen fest davon überzeugt, dass jeder Monat Vorlaufzeit vor einem Mitbewerber bedeutend ist. Aber ist dies auch immer von Vorteil für die Patientinnen?

Nur etwa eine von zehn experimentellen Therapien oder von neuen Diagnostiktests, die mit klinischen Studien beginnen, schafft es schließlich zu einer behördlichen Zulassung. Aber eine behördliche Zulassung ist nur eine offene Tür zu einer noch riskanteren Phase: der Kommerzialisierung. In unserem Fachbereich haben wir schon mehrmals schmerzlich erfahren müssen, dass Medikamenteneinführungen zu unerwarteten Nebenwirkungen geführt haben. Der Contergan Skandal (1961) war eines dieser Beispiele. Wäre die Contergan-Katastrophe vermeidbar gewesen? Das pharmazeutische Wissen der 1950er-Jahre reichte aus, um schon damals Zweifel an dem Wirkstoff Thalidomid aufkommen zu lassen. So wurde Contergan nicht in allen Märkten zugelassen. In den USA verweigerte Frances Kelsey, eine FDA-Mitarbeiterin, die Genehmigung für den US-Markt. Kelsey, die mit der Problematik der arzneilichen Stoffgruppe vertraut war, verlangte Nachweise für die Unbedenklichkeit von Contergan auf die embryonale Organbildung in den ersten Wochen der Schwangerschaft.

Da es zu dieser Zeit noch kein öffentlich-rechtliches Zulassungsverfahren gab, galt bei den Pharmakonzernen das Prinzip der Selbstüberwachung. Deshalb wurde Contergan in Deutschland und in der Schweiz auf den Markt gebracht, mit den Folgen, die wir kennen. Seither wurde, um den Schutz der Gesundheit von Mensch und Tier zu gewährleisten, das Bundesgesetz über Arzneimittel und Medizinprodukte (SR 812.21) erlassen, welches garantieren soll, dass nur qualitativ hochstehende, sichere und wirksame Heilmittel in Verkehr gebracht werden. Diagnostische Tests werden als Medizinprodukte definiert und müssen damit nicht den strengen Zulassungs- und Überwachungsverfahren wie Arzneimittel unterliegen. Diagnostische Tests können jedoch gesunde Menschen fälschlich als erkrankt identifizieren (falsch-positives Ergebnis) oder erkrankte Menschen als erkrankungsfrei ausweisen (falsch-negatives Ergebnis), deshalb sind auch sie entsprechend dem Bundesgesetz reguliert. Des Weiteren entscheidet das Bundesamt für Gesundheit (BAG) nach den drei gesetzlich verankerten Kriterien Wirksamkeit, Zweckmässigkeit und Wirtschaftlichkeit (abgekürzt WZW), ob ein Medikament oder ein Medizinprodukt von den Krankenversicherungen vergütet wird oder nicht. Der Nachweis der Wirksamkeit einer Leistung hat nach wissenschaftlichen Methoden zu erfolgen (Art. 32 Abs. 1 KVG). Die angewendete Methode des Wirksamkeitsnachweises muss objektive Aussagen machen und reproduzierbar sein.

Ziel der Pharmaindustrie ist nicht nur, als Erste auf dem Markt zu sein, sondern auch so rasch als möglich von den Kassen vergütet zu werden. Sobald dies der Fall ist, kommt das Marketing ins Spiel, um den Verkauf anzukurbeln.

Wie jedes Gesetz kann auch SR 812.21 umgangen werden, insbesondere was den Nachweis der Wirksamkeit angeht. Neben dem Risiko falscher Ergebnisse (und dadurch einer Verzögerung des Behandlungsbeginns oder die Durchführung einer unnötigen Therapie) können diagnostische Tests unerwartete Nebenwirkungen haben (z. B. Komplikation bei einer unnötigen Laparoskopie) oder sie führen zu weiteren unnötigen Untersuchungen.

Auch wenn die Behörden Medikamente oder diagnostische Tests bewilligen, bei welchen wir als Ärztin oder Arzt das Gefühl haben, die Wirksamkeit sei noch nicht wirklich erwiesen, ist es an uns, wie damals Frances Kelsey, aufzustehen und zu verlangen, dass mehr Untersuchungen durchgeführt werden, bevor wir ein Medikament oder einen diagnostischen Test regelmässig anwenden. Die Grundsätze „Primum non nocere, secundum cavere“ sollten auch, unabhängig vom Marketing, 2500 Jahre nach Hippokrates unsere medizinischen Handlungen leiten.

Für die Herausgeber

Prof. Michael D. Mueller

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