Im Dialog - DSD – Was ist das?

Prof. Annette Kuhn im Gespräch mit Prof. Christa Flück

Curriculum Vitae

Prof. Dr. Christa Flück hat in Bern studiert und ist Abteilungsleiterin für pädiatrische Endokrinologie und hat die Kooperation für DSD und andere Patient­Innen zwischen Kinderklinik und Frauenklinik am Inselspital Bern initiiert.

Sie hat zahlreiche Grants zum Thema DSD bekommen und eine beträchtliche Anzahl von wissenschaft­lichen Preisen erhalten:

  • SNF Early and Advanced Mobility Grants (2001–2003) for Postdoctoral Fellowship at Univ California San Francisco (Prof. W.L. Miller, Steroid Lab)
  • SNF SCORE Grant to return to UniBE and start own lab (2004–2007).
  • Solvey-Prize of the Swiss Society of Endocrinology and Diabetology (1999)
  • Young Investigator Award of the European Society of Pediatric Endocrinology (2005)
  • Prize of the „Fondation Endocrinologie Geneve“ (2005)
  • Theodor Kocher Prize of UniBE (2007)
  • Research Award 2018 of the European Society Pediatric Endocrinology

Frauenheilkunde aktuell: Du beschäftigst Dich seit vielen Jahren mit DSD aus Perspektive Pädiatrischer Endokrinologie – was ist DSD eigentlich, und was geht das den ganz normalen Gynäkologen an?

Christa Flück:Varianten der Geschlechtsentwicklung (engl. Disorders/Differences of sex development) fassen alle atypischen biologischen Entwicklungen zusammen, die die Entwicklung der Gonade und der sekundären Geschlechtsorgane und der davon abhängigen Funktionen betreffen. Dies sind dann im Wesentlichen die Pubertätsentwicklung, die Sexualität und die Fertilität und Reproduktionsfähigkeit. Das typische Bild, das man sich darunter vorstellen kann, ist das Kind mit atypischem/unklarem äusseren Geschlecht bei Geburt oder der/die Jugendliche mit fehlender Pubertätsentwicklung und/oder Entwicklung von sekundären Merkmalen, die dem Gegengeschlecht entsprechen. Bekannte Beispiele dazu sind das adrenogenitale Syndrom bei karyotypischen Mädchen mit einem genetisch bedingen 21-Hydroxylase-Mangel oder die testikuläre Feminisierung bei männlichem Karyotyp und hohen Testosteron-Spiegeln aufgrund genetischer Varianten im Androgen-Rezeptor. Dazu gehören aber auch das Turner-Syndrom oder das Klinefelter-Syndrom sowie das dem Gynäkologen gut vertraute MRKH-Syndrom, bei welchen die Geschlechtszugehörigkeit meist nicht problematisch ist resp. infrage gestellt wird.

Die Medizin hat in den vergangenen drei Dekaden aufgrund der Molekulargenetik immensen Wissenszuwachs auf dem Gebiet der Geschlechtsentwicklung erhalten. Seit Gedenken der Menschheit sind die typischen zwei Geschlechter Mann und Frau bekannt, und sind Menschen dazwischen als „besonders“ erkannt worden, in der alten Literatur als Hermaphroditen, später als Intersexuelle. Geschlechtsentwicklung und Geschlecht wurden aber nicht so verstanden wie heute. Vor über 100 Jahren wurde zwar der geschlechtsspezifische Chromosomensatz entdeckt, aber die ersten geschlechtsbestimmenden Gene wurden erst in den 1990er-Jahren beschrieben. Seither kennen wir weit über 100 Gene und deren Varianten, die bei der Biologie der Geschlechtsentwicklung in einem Netzwerk beteiligt sind. Bis zur 6. Woche nach Konzeption ist die Gonade neutral, dann wird sie durch das darunterliegende Genprogramm in eine typisch weibliche oder männliche Gonade determiniert. Ausgehend von dieser werden dann die embryonalen Müller-und-Wolf-Strukturen in die entsprechenden sekundären Geschlechtsorgane differenziert. Dies führt dann auch zum typischen äusseren Geschlecht bei Geburt sowie zu einer Geschlechtsprägung des Gehirns, welches somit auch ein Sexualorgan ist. Varianten im Netzwerk der Geschlechtsgene führen zu Varianten der Geschlechtsentwicklung. Entsprechend der Komplexität der Geschlechtsentwicklung gibt es sehr viele verschiedene Varianten.

Bis weit in die 1990er-Jahre hat man geglaubt, dass Geschlecht (engl. Gender) anerzogen ist und dass deshalb Menschen mit Varianten der Geschlechtsentwicklung durch geschlechtsangleichende Operationen therapiert resp. geheilt werden können. Dies hat sich eindeutig als falsch herausgestellt. Viele geschlechtervariante Menschen, die so behandelt wurden, äussern sich heute entsprechend negativ über ihre Behandlungen. Auch das heute verfügbare medizinische Wissen widerlegt diese Lehrmeinung und wurde entsprechend revidiert. Die Grundsätze, wie man Menschen mit Varianten in der Geschlechtsentwicklung unterstützen soll, wurden 2012 auf Initiative von Betroffenen durch die Nationale Ethikkommission (NEK) neu verfasst. Diese beinhalten gesellschaftlich-rechtliche Empfehlungen und medizinische Aspekte (https://www.nek-cne.admin.ch/inhalte/Themen/Stellungnahmen/NEK_Intersexualitaet_De.pdf). Der wichtigste Punkt dabei ist das Selbstbestimmungsrecht der Betroffenen, was in der Pädiatrie immer sehr schwierig ist bei Behandlungsentscheidungen, die man eventuell zusammen mit den Eltern bei sehr jungen, unmündigen Kindern machen muss. Insbesondere Operationen im Genitalbereich sind heute bei Kindern sehr kontrovers und beschränken sich auf notwendige Eingriffe. Im Gegensatz dazu kann der Gynäkologe bei Operationen im Genitalbereich im Erwachsenenalter auf das Einverständnis der Frau zählen. Ich wurde damals von der NEK als Expertin zum Thema aus Perspektive Medizin befragt. Die ganzheitliche Darstellung der Probleme, die sich beim Umgang mit Menschen mit Varianten der Geschlechtsentwicklung ergibt, fasziniert mich.

Frauenheilkunde aktuell: Wie bist Du auf dieses wichtige Betätigungsfeld gekommen?

Christa Flück: Ich habe mich damals für das Medizinstudium entschieden, weil ich den Umgang mit Kindern und Jugendlichen und Naturwissenschaften liebe. Eine Alternative wäre der Lehrerberuf gewesen. Schon während dem Medizinstudium hat mich die Endokrinologie, Biochemie und Genetik fasziniert. So habe ich mich relativ rasch nach dem Studium in der Pädiatrie und schliesslich der Pädiatrischen Endokrinologie in der Abt. von Prof. Primus E. Mullis an der Universitäts-Kinderklinik Bern heimisch gefühlt und wurde entsprechend gefördert. Damals wurde gerade die Erstbeschreibung von DSD bei Mutationen im SF1/NR5A1 Gen publik (Achermann et al., Nat Genet 1999). Ausserdem hat mich das adrenogenitale Syndrom (AGS) bei unseren Patienten sehr interessiert. Verständnis der Endokrinologie basiert auf Molekularbiologie, deshalb habe ich mich nach meiner Spezialisierung für einen Forschungsaufenthalt zum Erlernen der molekularen und genetischen Labormedizin entschieden. Dies führte mich für einen SNF-geförderten Forschungsaufenthalt ins Labor von Prof. Walter L. Miller an die University of California, San Francisco – der Wiege der Pädiatrischen Endokrinologie der USA. Dort habe ich mich in die Steroidhormone, zu welchen auch die Sexualhormone gehören, „vernarrt“. Seit Rückkehr an die Kinderklinik der Universität Bern habe ich zum Thema Steroidhormone und seltene Erkrankungen der Nebennieren und Geschlechtsentwicklung eine laborbasierte Forschungsgruppe aufgebaut. Wir studieren Pathomechanismen und lernen von jedem Patienten mit einer Variante der Geschlechtsentwicklung Neues dazu.

Frauenheilkunde aktuell: Wie viele PatientInnen siehst Du mit diesem Problem?

Christa Flück: Wenn man die Definition für DSD gemäss Chicago Consensus 2006 anwendet, hat wahrscheinlich 1 auf 2000 Kinder bei Geburt eine Variante der Geschlechtsentwicklung. Wie bereits erwähnt, fasst diese Definition breit und nur wenige dieser Kinder haben ein unklares Geschlecht bei Geburt. Die Situation, dass nach unauffälliger Schwangerschaft ein Kind mit unklarem Geschlecht geboren wird, ist sehr selten. In der CH ist die häufigste Form das AGS beim Mädchen, welches zur Vermännlichung des äusseren Genitales führt, sodass ein Mädchen bei Geburt sogar als Knabe verkannt werden kann. Da das 21-Hydroxylase-AGS im Neugeborenenscreening gesucht wird, werden jedoch diese „versteckten“ Mädchen bei uns früh erkannt und entsprechend einer lebensnotwendigen Corticosteroid-Therapie zugeführt. AGS tritt bei uns mit einer Häufigkeit von 1:12 000 Neugeborenen auf; in Bern betreuen wir ca. drei Neugeborene pro Jahr. Ungefähr ähnlich viele Kinder mit unklarem Geschlecht unklarer Genes fordern uns zusätzlich jedes Jahr. Vor allem karyotypisch männliche Neugeborene mit stark untervirilisiertem äusserem Genitale stellen für die Familien und unser DSD-Team eine Herausforderung dar. Es gilt, für jedes Kind, seine (Kranken-)Geschichte und seine Familie individuelle Lösungen und Wege in die Zukunft zu finden.

Frauenheilkunde aktuell:Was bedeutet es für Eltern, die ein Kind mit diesen Auffälligkeiten haben, und wie geht man am besten damit um?

Christa Flück: Eltern rechnen nicht damit, dass das Geschlecht ihres Kindes bei der Geburt als „unklar“ deklariert werden könnte. Das Geschlecht des Kindes wird meist schon während der Schwangerschaft mit grossem Interesse erfragt und von den Geburtshelfern gemäss Ultraschall-Bildern kommuniziert. Diese Geschlechtsbestimmung des Kindes stimmt zwar zu über 99 %, irritiert aber, wenn dann bei Geburt sich ein unklares Geschlecht oder sogar Gegengeschlecht beim Blick in die Genitalregion präsentiert. Ähnlich irritiert ist dann meist auch das Geburtshelferteam. Eltern werden nach Geburt eines Kindes unmittelbar nach dessen Geschlecht gefragt und wissen nicht, wie sie antworten sollen und was nun zu tun ist. Entsprechend muss professionell gehandelt werden, um der Ohnmacht gegenüber dem Thema zu begegnen und das Kind und seine Familie vom ersten Tag weg optimal zu begleiten. Deshalb sollte sofort ein hochspezialisiertes DSD-Team eingeschaltet werden, das geübt ist, solche Situationen an die Hand zu nehmen. Dieses Team wird den Eltern und dem Betreuungsteam beratend zur Seite stehen und erste Abklärungen in die Wege leiten.

Frauenheilkunde aktuell: Gibt es Guidelines, die Du empfehlenswert findest?

Christa Flück:Kinder und Jugendliche mit einer DSD-Problematik sollen ab Diagnose von einem DSD-Team betreut werden. Dies fordern internationale Richtlinien, die wir auch in der CH befolgen (Ahmed et al., Clin Endocrinol 2016; Cools et al., Nat Rev Endo 2018; Flück, Nordenström et al., EJE 2019). DSD-Teams gibt es in der CH an allen grossen Kinderspitälern. Zu diesen Teams gehören eine spezialisierte Psychologin, die die Familie vom ersten Tag weg begleitet, Spezialisten der Neonatologie, Endokrinologie, Urologie, Genetik, Labormedizin sowie idealerweise ein Ethiker und ein Vertreter einer Patienten­organisation. Durch die EU-unterstützte COST Action DSDnet (2014–2018; https://www.cost.eu/actions/BM1303) wurden zusammen mit Betroffenen diagnostische und therapeutische Richtlinien erarbeitet, die heute für die ganzheitliche Betreuung als Leitlinien zur Verfügung stehen. Ich konnte als CH-Vertreterin in einer dieser Arbeitsgruppen mitarbeiten und habe dabei enorm profitiert. In Bern haben wir entsprechend diesen Richtlinien ein DSD-Team aufgebaut, welches sich regelmässig für Fallbesprechungen trifft und seit 2020 auch eine interdisziplinäre Sprechstunde am Kinderspital anbietet.

Wichtig ist vor allem die Zusammenarbeit mit den Betroffenen. Ab 2006 wurde deshalb ein internationales I-DSD-Register (https://home.i-dsd.org/) geschaffen, in welchem anonymisierte Daten von DSD-Betroffenen gesammelt werden. Nur so lassen sich grössere Datensätze erheben, aus welchen ungelöste Fragen diagnostischer, therapeutischer und prognostischer Natur gelöst werden können. Dieses Register mutiert aktuell zum Weltregister und enthält über 5000 Datensätze. Nach Pilot in Bern hat sich die Schweizerische Gesellschaft Pädiatrischer Endokrinologie, Diabetologie entschieden, dass auch unsere CH-Patienten in dieses Register erfasst werden sollen. Es wurde die Swiss DSD Cohort Study ins Leben gerufen, welche ich mit einem Studienteam aus Bern leite. Aktuell sind wir bemüht, epidemiologische Daten für die Gesamtschweiz zu erheben, um endlich die immer wieder auch in der Öffentlichkeit und Politik auftretende Frage nach der Anzahl DSD-Betroffener in der CH zu lösen.

Frauenheilkunde aktuell: Wie viele Kinder werden damit in etwa in der Kinderklinik des Inselspitals behandelt?

Christa Flück: Mit der Swiss DSD Cohort Study sind wir bemüht, genaue epidemiologische Daten zu erheben. Es macht den Anschein, dass wir ab 2000 an unserer Universitäts-Kinderklinik in Bern ca. 180 Kinder mit einer Diagnose DSD gemäss Chicago Consensus gesehen haben. Achtung, diese Zahl ist aber nicht gleichzusetzen mit unklarem Geschlecht. Wie erwähnt sind darunter sehr viele Kinder mit Turner-Syndrom oder Klinefelter-Syndrom, die bei Geburt kein unklares Geschlecht haben. In einem Artikel im Swiss Medical Forum haben wir 2018 die aktuelle Situation der Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit DSD beschrieben (https://medicalforum.ch/article/doi/smf.2018.03378).

Frauenheilkunde aktuell: Was gibst Du den Betroffenen, wenn sie älter werden, mit auf den Weg?

Christa Flück: Das männliche und weibliche Geschlecht sind die zwei häufigsten Extremvarianten der Geschlechtsentwicklung. Varianten dazwischen sind Spielereien der Natur, die seltener vorkommen. Ob ein Mensch sein Geschlecht als männlich, weiblich, neutral oder dazwischen identifiziert, ist Privatsache. Es gilt Selbstbestimmungsrecht. Aber mit einer Variante in der Geschlechtsentwicklung auf medizinische Versorgung zu verzichten, ist nicht ratsam, da viele darunterliegende Gen-Varianten auch andere gesundheitliche Probleme verursachen können, die – wenn früh entdeckt – einer erfolgreichen Behandlung oder sogar Vorsorge zugeführt werden können. Man geht davon aus, dass ca. 30 % der Menschen mit einer Variante der Geschlechtsentwicklung medizinisch relevante Probleme in anderen Organsystemen haben.

Frauenheilkunde aktuell: Was ich den Gynäkologen und Erwachsenenmedizinern zum Schluss noch sagen möchte?

Christa Flück: Das Interesse an DSD ist leider immer noch eine Interessensdomäne der Mediziner für Kinder und Jugendliche. Es braucht aber dringend auch Gynäkologen und andere Erwachsenen-Spezialisten, die sich für die besonderen Themen der Menschen mit Varianten der Geschlechtsentwicklung im Langzeitverlauf speziell interessieren. Bedürfnisse für bessere Langzeitbetreuung im Erwachsenenalter wurden von Betroffenen formuliert und es gibt viele offene Fragen, die noch gelöst werden müssen. Entsprechend wurde kürzlich das I-DSD-Register erweitert, um Langzeitdaten auch im Erwachsenenalter zu erfassen, damit sie für Studienfragen zur Verfügung stehen. Es würde mich freuen, wenn bald auch ein Erwachsenenmediziner der CH sich für die Medizin und Forschung im Bereich DSD speziell engagieren würde. Bei Fragen dazu stehe ich gerne zur Verfügung.

Herzlichen Dank für dieses spannende Interview!!!

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