Das Phänomen „kleines Kind“ haben wir in den letzten Jahren bereits einige Male – aus verschie-denen Blickwinkeln betrachtet – in der FHA thematisiert. Offensichtlich bleibt es interessant und noch aktuell. Meist spricht das dafür, dass wir das Problem noch nicht verstanden haben oder noch nicht gelöst haben oder es sind neue Erkenntnisse dazugekommen, welche für die Leser-schaft von gewisser Relevanz sein könnten. Ich glaube, dass es etwas von allem ist.
Das kleine Kind ist mehr als nur eine statistische Grösse, welche epidemiologisch, theoretisch oder ätiologisch erfasst werden kann. Die Epidemiologen kümmern sich nicht um Ursachen, sondern definieren eine Untergrenze, um von einem kleinen Kind zu reden. Die Theoretiker sprechen vom genetischen Wachstumspotenzial, welches nicht erreicht wird. Während für den Epidemiologen Dynamik keine Rolle spielt, braucht der Kliniker longitudinale Messungen. Ein Abweichen von der erwarteten Wachstumsdynamik wird als pathologisch erachtet. Dazu sind Wachstumsnormkurven erforderlich, welche auch nach verschiedenen Variablen korrigiert werden können. Der Kliniker sucht nach dem Grund der Abweichung und unterteilt die kleinen Kinder nach der zugrunde liegenden Pathologie. Da wir allesamt Kliniker sind, liegt uns die Einteilung nach Ätiologie besser. Wir haben gelernt, in Differenzialdiagnosen zu denken und uns mittels gezielten Untersuchungen der wahrscheinlichsten Diagnose zu nähern. Diese wahrscheinliche Diagnose leitet auch unser Handeln, welches vom exspektativen Vorgehen bis zum Schwangerschaftsabbruch gehen kann. Die Grafik 1 fasst die möglichen Ätiologien eines „kleinen“ Kindes zusammen. Dabei sind 20–25 % der Fälle bedingt durch eine krankhafte Ausgangslage. Diese kann durchaus auch durch eine maternale Grundkrankheit, welche die plazentare Funktion beeinträchtigt, induziert werden. Der überwiegende Anteil der kleinen Kinder ist konstitutionell bedingt und somit per Ausschlussdiagnose definiert.
Wieso ist die Detektion solcher Kinder so wichtig? Ein beeinträchtigtes fetales Wachstum ist mit einer höheren perinatalen Mortalität und Morbidität assoziiert. Neben den zu erwartenden entwicklungsneurologischen Handicaps bedingt durch die höhere Prävalenz von Frühgeburtlichkeit [1, 2] weisen diese Kinder kurz-, mittel- und auch langfristige, d. h. im adulten Alter höhere Risiken für metabolische und auch kardiovaskuläre Komplikationen auf. Eine bessere pränatale Detektion eines beeinträchtigten fetalen Wachstums könnte helfen, die hohe Rate z. B. an intrauterinem Fruchttod zu senken. Tatsächlich weisen über 30 % der Kinder, welche unerwartet intrauterin sterben, eine Wachstumsrestriktion auf [3, 4].
Es ist alles viel einfacher zu verstehen, zu behandeln und vorzubeugen, wenn man eine gute Diagnose stellen kann. Wir sind weit davon entfernt, aus anamnestischen, klinischen und sonographischen Hinweisen mit einer guten Sensitivität und Spezifität ein kleines Kind zu diagnostizieren. Das hat verschiedene Gründe, welche allesamt im dynamischen Prozess des Wachstums, im inhärenten Messfehler und an der Messlatte – welche wir verwenden um Klein als Klein zu erkennen – liegt.
Der Epidemiologe hat es am einfachsten. Er nimmt das Geburtsgewicht und definiert z. B. zu klein als <10. Perzentile oder <2500 g am Termin ohne Rücksicht auf die zugrunde liegende Ätiologie zu nehmen. Der Theoretiker braucht Normkurven und wir Kliniker brauchen neben den Normkurven und den longitudinalen Messungen auch Werkzeuge, welche uns mehr zur Ursache und auch zum Schweregrad der Wachstumseinschränkung sagen. Wir müssen verstehen, in welchem Anpassungszustand sich das Kind befindet, um Rückschlüsse ziehen zu können, wann wir entbinden müssen.
Das mit den Wachstumsnormkurven ist in den letzten Jahren komplexer geworden. Verschiedene statistische Modellen basierend auf unterschiedlichen Populationen haben unterschiedliche „untere Grenzen“ definiert. Heutzutage konkurrieren die Intergrowth 21 [5], die WHO [6], die Hadlock Wachstumskurve [7] und viele andere miteinander. Alle Normkurven basieren auf sauber durchgeführten Studien. Ich will hier nicht auf die Einzelheiten dieser verschiedenen Normkurven eingehen. Ein Vergleich v. a. der drei erstgenannten Kurven hat aber gezeigt, dass die WHO und die viel ältere Hadlock-Kurve die beste Performance bzgl. Detektion von small for gestational age (SGA)-Feten und von solchen, die intrauterin verstorben sind, zeigen [8] (Grafik 2, Bild A). Interessant ist die Beobachtung, dass es offenbar zwei Cluster von Feten gibt, welche intrauterin verstorben sind, solche <30 Wochen und solche >30 Wochen. Währenddem die 10. Perzentile für die erste Gruppe die bessere diskriminierende Eigenschaft aufweist, ist die 25. Perzentile nach 30 Wochen der bessere cut-off, um aufmerksamer zu werden bzw. um erneut das Wachstum des Kindes zu kontrollieren (Grafik 2, Bild B). Diese Zunahme der IUFT-Fälle ab der 25. Perzentile konnte ebenfalls in einer Kohortenstudie von knapp einer Million Einlingsschwangerschaften gezeigt werden (Grafik 4). In Bern brauchen wir weiterhin die fetale Wachstumskurve nach Hadlock, und zwar die IV.
Die ISUOG (International Society of Ultrasound in Obstetrics and Gynecology) hat kürzlich umfassende Richtlinien zu Diagnose und Behandlung von SGA-Feten publiziert [10]. Was die Erfassung des devianten Wachstums anbelangt, hat die ISUOG in Tab. 1 und 2 folgende Empfehlungen herausgegeben:
Punkt 2 ist interessant, da hier die Dynamik des Wachstum berücksichtigt wird. Wie bereits erwähnt, scheint sich die Perzentile, bei welcher wir aufmerksamer werden sollten, mit zunehmendem Gestationsalter zu verändern, d. h. anzusteigen [8, 9]. Haben wir es denn mit einer unterschiedlichen Ausprägung der zugrunde liegenden Pathologie zu tun? Ist es tatsächlich so, dass klinisch und ätiologisch unterschiedliche SGA-Phänotypen differenziert werden können? Wahrscheinlich bzw. sicher! Diese zwei Entitäten weisen auch auf eine unterschiedliche Problematik mit auch unterschiedlicher Prognose hin. Wenn wir das Beispiel IUFT nehmen, so können wir anhand der Hadlock- (oder WHO-)Wachstumskurve) eine virtuelle Grenze ziehen bei 30 Wochen. Die Detektionsrate für eine Todgeburt und SGA war über 80 % ≤30 Wochen und nur knapp 40 % >30 Wochen [8] (Grafik 3).
Auch die neuen Empfehlungen der ISUOG unterscheiden frühe (early-onset) und späte (late-onset) IUWR-Feten [10]. Die Grenze liegt dabei bei 32 Wochen [10, 11] (Tab. 2). Dass diese zwei Entitäten ätiologisch unterschiedlich sind, zeigt auch die hohe Korrelation zwischen Präeklampsie und anderen hypertensiven Komplikationen und den early-onset IUGR-Feten. Hier spielt, wie bei der frühen Präeklampsie, die Pathologie der Spiralaterien eine zentrale Rolle.
Neben dem Gestationsalter erlauben uns klinische und v. a. Doppleruntersuchungen zwischen diesen zwei Gruppen zu differenzieren. Die Parameter, welche dabei als diskriminierend erachtet werden, wurden in einem Delphi-Prozess ermittelt und 2017 publiziert [11] (Tab. 3). Seither ist diese Studie von Gordijn SJ et al. [11] eine der meist zitierten in diesem Sektor.
Meines Erachtens ist die Einteilung zwischen early- und late-onset IUWR nicht ganz vollständig bzw. sie basiert nicht auf einer evidenzbasierten Überlegung, insbesondere was das Management anbelangt. Während wir <32 Wochen sehr gute, randomisierte Studien [12, 13] haben, welche uns helfen, zwischen stabiler und kompromittierter fetaler Situation zu unterscheiden, ist dies ab 32 Wochen nicht mehr gegeben bzw. unser Wissensstand ist leider mangelhaft und unsere Interaktionen basieren nicht auf guter Evidenz. In Grafik 5 sind die aktuellen Empfehlungen, wann und wann nicht IUWR-Feten ≤32 Wochen entbunden werden sollen, schematisch dargestellt. Das Zünglein an der Waage ist einerseits der Schweregrad der feto-plazentaren (umbilikalen) Hämodynamik, das Gestationsalter und die fetal-venöse Situation beurteilt anhand des Flussmusters im Ductus venosus (positive oder negative a-Welle). Neben der fetalen Hämodynamik spielt der mütterliche Zustand eine wichtige Rolle. Die Prävalenz von hypertensiven Komplikationen liegt in dieser Gruppe bei 73 % [11, 12]! Die CTG, speziell die computerisierte Version (cCTG), spielen erst dann eine Rolle, wenn entweder nicht provozierte, repetitive Dezelerationen aufgezeichnet werden oder die Kurzzeitvariation (short-term variation, STV) im cCTG unter einem Gestationsalter definierten Wert fällt. Die „Truffle“-Gruppe konnte zeigen, dass die Mortalität bei der Betreuung nach diesem Schema deutlich gesenkt werden konnte. Über 70 % der IUGR-Feten <32 überleben ohne schwere Morbidität und die perinatale Mortalität lag in diesem Hochrisikokollektiv bei lediglich 8 % [12]. Von speziellem Interesse ist die Beobachtung, dass die zerebrale Durchblutung (Begriffe wie: Zentralisation, Umverteilung, cerebro-placental [CPR] oder umbilico-cerebral ratio [UCR]) in diesem speziellen Kollektiv <32 Wochen von untergeordneter Relevanz für die Entbindung und auch als Langzeitprognosefaktor war [14]! Hingegen findet man eine Assoziation zwischen der zerebralen Hämodynamik bei Feten mit V. a. Wachstumsrestriktion >32 Wochen und perinatalem Outcome. Dies konnte vor kurzem in einer multizentrischen Kohortenstudie, welche über 800 Fälle/Feten zwischen 32 und 36+6 Wochen rekrutieren konnte, gezeigt werden [15]. Das ist auch der Startschuss einer noch grösseren Studie, die TRUFFLE-2 Studie. Hier wird die Frage untersucht, ob bei den late-onset IUWR (>32 Wochen) die zerebrale Hämodynamik, insbesondere die Umverteilung, ein Kriterium für die Entbindung sein könnte.
Wir kommen langsam zu einem Ende dieser komplexen Geschichte. Ein wenig diskutierter Punkt in all diesen Studien ist die Frage, wie gut unsere Fähigkeit überhaupt ist, ein kleines Kind zu diagnostizieren. Das tönt trivial, oder? Ist es aber nicht. In der prospektiven DIGITAT-Studie z. B., in welcher 650 (!) als klein vermutete Feten ≥36 Wochen randomisiert wurden in Einleitung ab 37 Wochen oder zuwarten, lagen bei Geburt lediglich knapp 46 % der Kinder mit ihrem Geburtsgewicht <10. Perzentile. Leider ist es so, dass je fortgeschrittener die Schwangerschaft ist, desto schlechter unsere Sensitivität ist! Aber dass spielt ja gar keine Rolle in der Spätschwangerschaft. Dort ist die 10. Perzentile, wie bereits erwähnt, ein schlechter Parameter, gefährdete Kinder zu erfassen. Besser ist es, die Wachstumsdynamik zu dokumentieren, welche uns die Abflachung der Wachstumsgeschwindigkeit zeigen kann. In vielen neueren Studien wird der Perzentilensprung um zwei Quartilen oder um 50 % als ein zusätzliches Kriterium für eine zugrunde liegende Plazentainsuffizienz interpretiert. Ein anti-angiogener Zustand diagnostiziert mit den neuen Parametern sFlt-1 und v. a. dem PlGF oder dessen Ratio könnten ebenfalls hilfreich sein, gefährdetere „kleine Feten“ zu identifizieren [17]. Auch die Kombination von Dopplerparametern wie die der Uterinae mit der A. cerebri media oder mit angiogenen Faktoren hilft zu diskriminieren [17, 18]. Diese letzten Punkte sind meines Erachtens v. a. wichtig im Management der „späten“ Formen, also den kleinen Feten >37 Wochen. Das ist die schwierigste Gruppe, sei es was die Diagnose anbelangt wie auch dessen Management. Unsere Aufgabe ist es, beinahe detektivisch vorzugehen und anamnestische sowie klinische Hinweise zu erfassen, welche mit einem erhöhten Risiko einer späten Plazentainsuffizienz einhergehen. Nach deren Identifizierung gilt es, nach Fällen mit einem höheren Risiko einer Dekompensation bzw. höheren Vulnerabilität für eine zerebrale Hypoxie zu screenen. Bekanntlich ist das differenziertere Gehirn sensibler für Hypoxie (variable Dezelerationen im CTG!) als dasjenige der frühen, kleinen Feten [1].
Ich hoffe nicht, dass Sie jetzt erwarten, dass ich Ihnen all diese Szenarien praktisch wie ein Kochrezept darlege. Die Betreuung dieser Fälle bedarf viel Psychologie und Fingerspitzengefühl. Eine multimodale, longitudinale Beurteilung, wenn möglich durch die gleiche Bezugsperson, kann helfen, auch Hinweise „zwischen den Zeilen“ zu erfassen, um individuelle Entscheidungen zu fällen. Nicht Betty Bossi!