Im Dialog: Gynäkologie und Glauben im Dialog!

Prof. Annette Kuhn im Gespräch mit Stefanos Athanasiou

Curriculum Vitae

Stefanos Athanasiou wurde 1981 in Hanau/Deutschland geboren und hat an der Ludwig Maximilian Universität München und der Aristoteles Universität von Thessaloniki Theologie studiert. Seit der Absolvierung seiner Promotion (Aristoteles Universität Thessaloniki) war er als Dozent für Orthodoxe Dogmatik und Ethik an der Theologischen Fakultät der Universität Bern und als Gastdozent an der Päpstlichen Universität Gregoriana/Rom und der Theologischen Hochschule in Chur tätig. Seit 2018 ist er Dozent für Orthodoxe Dogmatik und Ethik an der Theologischen Fakultät der Universität Fribourg, dem akademischen Studienjahr der Dormitio in Jerusalem, der Logos Universität von Tirana und als Gastdozent an der Theologischen Fakultät der Universität Bonn tätig. 2018 reichte er an der Theologischen Fakultät von Thessaloniki eine PostDoc-Forschungsarbeit ein, worauf er ein PD von der Aristoteles Universität Thessaloniki erhalten hat. Seit September 2019 ist er Gastforscher und Doktorand an der Medizinischen Fakultät – Institut für Biomedizinische Ethik und Medizingeschichte der Universität Zürich. 2019 hat er eine Stelle als Moderator und Redaktor bei Radio Maria Schweiz angenommen.

Annette Kuhn: Lieber Stefanos, du bist ja vor ein paar Wochen zum zweiten Mal Vater geworden. Dazu möchte ich deiner Frau und dir herzlich gratulieren und euch alles Gute wünschen für die Zeit nun zu viert.

Stefanos Athanasiou: Danke dir herzlich für die Wünsche und du gibst mir hier die Gelegenheit, dem ganzen Frauenklinik-Team des Inselspitals zu danken, sowohl für die pränatale Zeit als auch für die Geburt selbst. Es war wieder eine Super-Begleitung mit fabelhaften Fachpersonen und dem Gefühl, einfach in guten Händen zu sein.

Annette Kuhn: Wie war der Augenblick der Geburt speziell für dich?

Stefanos Athanasiou: Ich hatte eine Geburt ja schon mal mit unserem ersten Kind erlebt. Aber ich glaube, jede Geburt ist speziell. Die Bewegungen des Babys, wann es anfängt zu schreien, wann und wie es die Augen öffnet … irgendwie war das Ganze gleich, aber eben mit einem ganz anderen Baby, das von Anfang an seinen ganz eigenen Charakter und seine Eigenschaften mitbringt.

Annette Kuhn: Wenn du schon von der Geburt sprichst, also vom Anfang des menschlichen Lebens, was bedeutet Leben für dich als Theologen?

Stefanos Athanasiou: Leben ist in erster Linie für mich ein göttliches Geschenk. Ich weiss natürlich, dass man heute genau nachvollziehen kann, wie dieses Geschenk zustande kommt, wie es sich weiterentwickelt und wie es sich dann vom Embryo zum Baby weiterentwickelt – in diesem Sinne können viele Menschen nichts Göttliches mehr darin erkennen. Aber ich erkenne – wie gesagt – in diesem Geschehnis die Existenz und die Dynamik des Lebens als ein göttliches Geschenk an. Und ich muss dir sagen, dieser Gedanke beruhigt mich sehr, da ich in diesem göttlichen Geschenk die Absolutheit der Bewahrung des menschlichen Lebens sehe. Das menschliche Leben kann man somit nicht relativieren. Die existenzielle Würde des Menschen ist absolut und in diesem Sinne nicht einem philosophischen oder politischen System untergeordnet. Dadurch, dass es göttlichen Ursprung hat, darf und kann es nicht mit und durch politische und philosophische Systeme fallen bzw. abgeschafft werden. Und wenn es geschieht, sind diese Systeme rechtswidrig, aber eben nicht gegenüber einem geschaffenen Rechtssystem, sondern gegenüber der Ethik, die als roter Faden über jegliches politisches und philosophisches System gespannt ist und an der sich jedes messen muss.

Annette Kuhn: Du sprichst hier ja von Menschenwürde. Inwieweit ist ein würdiges Leben nur dann gegeben, wenn auch die Lebensqualität gesichert ist?

Stefanos Athanasiou: Der Gedanke der Lebensqualität wird ja besonders in unserer Zeit, in unserer Zivilisation und vor allem auch im medizinischen Bereich diskutiert. Es besteht heutzutage bei vielen Menschen die Ansicht, dass Lebensqualität vor allem durch sogenannte äussere Faktoren gewährleistet wird, also durch einen guten Job, ein schönes Haus bzw. einen guten materiellen Lebensstandard. Und in diesem Sinne bedeutet es auch, die Gesundheit zu haben, die schönen Sachen im Leben geniessen zu können. Ich war durch meine Tätigkeit an der Uni und in der Kirche sehr oft in Afrika und Asien und habe wohl die ärmsten Gebiete unserer Welt besucht. Das viele Elend hat in mir als Europäer Schrecken und Entsetzen hervorgerufen. Einerseits habe ich mich schlecht gefühlt, da ich ja genau wusste, dass ich in ein paar Tagen wieder in das Flugzeug einsteigen werde, einmal oder zweimal umsteigen muss und dann bin ich wieder in meinem schönen weichen Bett, habe fliessendes Wasser, Dusche, WC usw. – ganz in Sicherheit eben oder besser gesagt, ein Geniesser meiner Lebensqualität. Jedoch ist mir dort noch etwas aufgefallen, ganz abgesehen von der bestehenden Armut. Ich habe sehr viele fröhliche junge Menschen gesehen. In all dem Elend habe ich viele lächelnde Gesichter entdeckt, was mir so in Europa nicht oft begegnet: einfach die Möglichkeit zu haben, sich mit den kleinen Dingen im Leben zufrieden zu geben und das Glück im Kleinen zu entdecken. Wenn du mich fragst, ist das einer der Eckpfeiler der Lebensqualität: das Glück im Kleinen entdecken zu können und sich daran zu freuen. Wenn man dieses nicht macht, bin ich mir sicher, dass bei der ganzen materiellen Lebensqualität die Freude am Leben nicht gegeben ist, also, dass jegliche Lebensqualität ihre Substanz verliert.

Annette Kuhn: Spielt für dich das Materielle also überhaupt keine Rolle?

Stefanos Athanasiou: Ich würde lügen, wenn ich nein sagen würde. Natürlich versuchen wir alle, ein relativ sicheres Leben zu haben und dazu gehört auch im Rahmen unserer Lebenssicherung die ökonomische bzw. materielle Ebene. Jedoch kann das Leben nicht nur das sein. Wenn wir uns die Schriften der byzantinischen Philosophen bzw. der griechischen Kirchenväter anschauen, entdeckt man darin eine unterschiedliche Benutzung des Wortes „Leben“. Im Griechischen gibt es zwei Begriffe für Leben: Bios und Zoe. Mit Bios wird das biologische Leben ausgedrückt, dies, was wir heute wohl als Leben bezeichnen würden. Da gab es aber auch das Wort Zoe, das eben viel mehr ist als Bios, das nämlich das Leben an sich bedeutete. Im orthodoxen Christentum hat dieser Gedanke dann tief die Theologie beeinflusst und man hat von der „Theosis“ – der Vergöttlichung des Menschen gesprochen.

Annette Kuhn: Also der Mensch wird Gott?

Stefanos Athanasiou: Nein, der Mensch bleibt immer Mensch, aber er nimmt teil an einem göttlichen Spezifikum – dem substanziellen Leben. Er ist eben nicht nur dem biologischen Sein unterlegen, sondern nimmt am Leben an sich teil. Wenn der Mensch es schafft, Bios zu Zoe werden zu lassen, wo er in jeder Zelle seines Seins das Leben fühlt, dann hat er die sogenannte Theosis erlangt. Vielleicht könnte man mit einem säkularen Begriff ausdrücken, dass der Mensch so die höchste Lebensqualität erreicht hat – eine tiefe Zufriedenheit und eine unerschöpfliche Hoffnung für alle Probleme des Bios. Zoe wird somit zur Messlatte für Bios und seine Erfüllung.

Annette Kuhn: Du dozierst ja auch Ethik ausser Theologie. Welchen Sinn hat also diese Unterscheidung der beiden Wörter für Leben für dich in Bezug auf Ethik?

Stefanos Athanasiou: Die Unterscheidung ist für mich ganz wichtig. Wenn Ethik eben „nur“ Bios, also dem biologischen Sein zugeordnet wird, dann ist es wahrlich nach den „biologischem Gesetz“ so, dass der Stärkere den Schwächeren bezwingen kann und ihn sich untertan machen kann. Im reinen biologischen Sein haben wir also, so würde ich sagen, eine Ethik des Stärkeren, der diese zum Schluss auch gewissermassen bestimmt. Wenn wir aber von Zoe ausgehen und Ethik als etwas Überbiologisches ansehen, dann wird dies – wie gesagt – der Leitfaden unseres menschlichen Handelns, eines Handelns, das eben nicht nur von einer momentanen philosophisch-politischen Idee beeinflusst ist, die sich vom Bios her entwickelt, sondern von Zoe als permanente Konstante des substanziellen menschlichen Seins. Somit könnte man sagen, Bios entwickelt sich fort und lässt sich von den historischen Entwicklungen beeinflussen. Zoe ist die Konstante in unserem Leben, die sich eben nicht beeinflussen lässt, sondern die statische Wächterin über unser ethisches Handeln ist.

Annette Kuhn: Kannst du das mit einem Beispiel erklären?

Stefanos Athanasiou: Ich glaube, das beste Beispiel ist der Zweite Weltkrieg, dessen Ende sich ja dieses Jahr zum 75. Mal jährt. Die gesamten Rassengesetze und Verfolgungen von verschiedenen religiösen und ethnischen Gruppen im Nazi-Deutschland waren ja nach damaligem deutschem Recht legal. Die Nazis haben in diesem Sinne nichts Illegales gemacht. Jedoch haben sie gegen grundlegende Menschenrechte verstossen, die ein System eben nicht aufheben kann, da diese Rechte aus dem Zoe quellen und damit eben dem unveränderlichen Recht unterliegen. Ein ethisches Rechtsdenken kann somit nicht einer Ideenentwicklung unterliegen, sondern hat in sich einen Absolutheitsanspruch. Und dieser Absolutheitsanspruch basiert auf dem Guten. Papst Benedikt XVI. hat dies einmal so ausgedrückt: „Die Moral, das Tun des Guten, ist der wahre Widerstand, und nur das Gute kann die Vorbereitung zum Umschwung auf das Bessere hin sein.“ Somit gibt es nur eine Moral und eine Ethik, und aus diesem Grund kann man nicht von Ethik im Plural reden. Sie ist Singular und damit einzigartig.

Annette Kuhn: Covid-19 ist ja in aller Munde. Was bedeutet diese Pandemie für dich?

Stefanos Athanasiou: Ich habe persönlich keine Angst, aber grossen Respekt vor dem Covid-19-Virus. Pandemien bzw. Epidemien gab es ja schon immer in der Menschheitsgeschichte.

Annette Kuhn: Berichtet eigentlich die Bibel auch von Pandemien?

Stefanos Athanasiou: Besonders das Alte Testament (AT) berichtet ja von Seuchen und Plagen, die man in den Bereich der Epidemien einordnen kann. Die wohl bekanntesten sind die zehn biblischen Plagen gegen die Ägypter, die dem Volk Israel nicht die Freiheit geben wollten. Man muss jedoch vorsichtig dabei sein, die Epidemien nur als eine Strafe Gottes anzusehen, was leider viele Menschen machen. Sicherlich kann man dieses Bild im AT finden. Aber man sieht im AT auch einen Gott, der Krankheiten etc. auch gegenüber Gerechten, also gottesfürchtigen Menschen zulässt, wie z. B. auch bei Hiob. Damit wollen die verschiedenen Verfasser eines ausdrücken: dass Krankheiten und Epidemien eben alle betreffen können.

Annette Kuhn: Gott hält sich also aus unserem Alltag fern?

Stefanos Athanasiou: Gott lässt manche Sachen zu und manche eben nicht. Wir wissen es einfach nicht, wie Gott entscheidet. Aber was ich sagen kann, was besonders in der Zeit des Neuen Testamentes und danach noch zu beobachten ist, ist nämlich der Umgang mit Krankheiten und Problemen. Die Hilfestellung und die Kollekte werden zum zentralen Punkt der christlichen Nächstenliebe. Und somit sieht man, dass im Vergleich zur früheren Zeit der Umgang mit Kranken, Notleidenden, Witwen, Waisen etc. eine Veränderung erfahren hat. Im Neuen Testament sieht man auch, dass etwa in jener Zeit Leprakranke bzw. Menschen mit ansteckenden Krankheiten in eine Art Quarantäne gehen mussten bzw. nicht mehr in die Dörfer und Städte gehen durften. Der Versuch der Heilung dieser Menschen bedeutete somit ein Zugehen auf diese Menschen, um sie wieder unter anderem in die Gesellschaft zu integrieren.

Annette Kuhn: Kann man also hier von Spiritual Care reden?

Stefanos Athanasiou: Ja sicherlich. Natürlich nicht so organisiert wie in der Folge, aber sicherlich kann dieses Verhalten als Anstoss dafür gesehen werden. Aber Spiritual Care ist keine Erfindung des 21. Jahrhunderts. So gab es etwa schon im 4. Jahrhundert eine philanthropische Kleinstadt, die von Basilius dem Grossen, Bischof von Caesarea in Kleinasien, gegründet wurde und deshalb den Namen „Basileiada“ bekam. Dort gab es eine Art Krankenhaus, wo Ärzte und Hilfskräfte angestellt waren. Darüber hinaus gab es ein Lepra-, Armen-, Waisen-, Witwen- und ein Altersheim. Natürlich gab es dort eine Kirche und viele Wohnungen bzw. Häuser für die dort tätig Gewesenen, aber auch für die Begleitpersonen der Kranken. Dies alles wurde durch Spenden finanziert, wobei die dort Arbeitenden nur insoweit entlohnt wurden, dass sie ihren Lebensunterhalt bestreiten konnten. Kranke und Begleitpersonen wurden dort kostenlos behandelt und untergebracht.

Annette Kuhn: Lieber Stefanos, bevor wir zum Ende unserer Unterhaltung kommen, doch noch eine persönliche Frage. Du hast ja schon des Öfteren den Papst getroffen bzw. auch andere höhere Würdenträger. Wie ist es so, den Papst zu treffen?

Stefanos Athanasiou: Es ist schon ein besonderes Gefühl, wenn man den Papst trifft. Besonders die ersten Male war es immer ein Moment der Aufregung. Aber ich muss dir sagen, beim persönlichen Gespräch merkt man sehr schnell, dass auch der Papst ein ganz normaler Mensch ist. Ich hatte ja die Möglichkeit, Papst Benedikt XVI. sowohl zu der Zeit, als er Papst war, als auch danach als Emeritus zu begegnen. Bei ihm hat mich immer seine Demut im Umgang mit seinen Mitmenschen fasziniert. Er hat nie den Papst „gespielt“. Er hat Fragen gestellt und konnte sehr ruhig und konzentriert zuhören und gab einem immer das Gefühl, als lerne er etwas von dir und nicht du von ihm, obwohl es in der Praxis meistens doch umgekehrt war.

Annette Kuhn: Du dozierst ja auch in Jerusalem. Wie ist es so für dich, dort als Theologe zu sein?

Stefanos Athanasiou: Jerusalem ist eben der Ursprung. Dort hat alles angefangen. Das gesamte Heilige Land ist für mich nicht einfach nur ein Museum, wo ich alles das, was ich einmal in Büchern und in der Bibel gelesen habe, aus der Nähe sehen kann. Es ist dieses Gefühl, an einem Ort zu stehen, wo Geschichte geschehen ist und geschieht. Wenn man etwa in der Grabeskirche steht und dort die Wände berührt oder etwa die alte Pforte durchschreitet, kommen mir gleich die Gedanken, wer da schon alles vor mir war. Manche Mauern stammen noch aus der Zeit Konstantins des Grossen, dort waren viele berühmte römische Kaiser, aber auch ganz einfache Pilger und Pilgerinnen, die die gesamte Reise zu Fuss von Europa nach Jerusalem gewagt haben, und deren Pilgerberichte bis heute noch existieren. Und ganz wichtig ist natürlich, dass Jesus Christus selbst dort war und sein Grab, die sogenannte Ädikula, bis heute dort existiert. Auch heute fasziniert die Stadt mit den drei Weltreligionen. Es ist etwas in der Luft, das man einfach nicht erklären kann, und das merkt man eben auch im Hörsaal. Es ergeben sich Diskussionen mit den Studierenden, die man vielleicht in Europa nicht führen würde, da man in Jerusalem nur jemand ist, wenn man eine Religion hat. Man spricht über religiöse Traditionen, Gott, Wahrheit als etwas Selbstverständliches. Wenn man von einem säkularen europäischen Umfeld kommt, ist man da zuerst verwundert. Aber es hat eben etwas Fesselndes.

Annette Kuhn: So – und was kommt bei dir als Nächstes?

Stefanos Athanasiou:Na ja, ich bin ja als Dozent in Fribourg, Jerusalem, Tirana und Bonn tätig und bin Moderator einer Radiosendung auf Radio Maria Schweiz – das bleibt bis auf Weiteres erstmals. Darüber hinaus habe ich vor einem Jahr mit einer weiteren Promotion, diesmal an der Medizinischen Fakultät an der Uni Zürich im Institut für Biomedizinische Ethik und Medizingeschichte, begonnen. Ich möchte in den nächsten zwei Jahren eine Arbeit über künstliche Intelligenz in der Medizin und Medizinethik, an der ich bereits arbeite, beenden. Ich bin sehr froh, dass ich durch dieses neue Studium auch mit der Medizin in Kontakt kommen kann und bin gespannt, wohin mich dieser Weg führen wird. Ganz nach dem Motto: Utile dulci.

Annette Kuhn: Dabei wünsche ich dir alles Gute und ich danke dir herzlich für dieses interessante Gespräch!

Stefanos Athanasiou:Dankeschön!

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